Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 176

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einander zu bringen, deren Zusammenhang niemandem vorher eingefallen war. Allein die Einheitlichkeit in der Behandlung all dieser verschiedenen Probleme war nur eine äußerliche, sie war bei näherem Zusehen erzielt nur durch den regelmäßig und häufig wiederkehrenden Gebrauch derselben allgemeinen und umfassenden Ausdrücke, wie „das gesamte Proletariat“, „die ganze Welt“, „das hohe Meer des Sozialismus“ usw. Es war dies, mit einem Worte, nur die Einheitlichkeit der Rhetorik; politisch klangen all die formvollendeten Ausführungen Jaurèsʼ stets nur in den Refrain aus: Ceterum censeo, das Kabinett muß am Ruder bleiben! Also nicht eine Theorie, nicht ein Prinzip, sondern eine Opportunität.

Somit lag in den Bestrebungen Jaurès’ zur Verwirklichung der sozialistischen Einigkeit in Frankreich wie in allen anderen Punkten seiner Taktik von vornherein ein innerer Widerspruch. Während er mit der ihm eigenen Expansivität und Exklusivität die Einigkeit als die oberste Aufgabe, als das Conditio sine qua non, als die einzige Gewähr der weiteren Fortschritte des Sozialismus hinstellte, propfte er diese Einigkeit zugleich auf eine sozialistische Auffassung auf, die ihrem Wesen nach zur Uneinigkeit führen muß. Und dieser Widerspruch verwirklichte im vorhergehenden Stadium seine formelle Seite, indem er zur Spaltung zwischen Ministerialisten und revolutionären Sozialisten führte, er verwirklicht nunmehr seine materielle Seite, indem er auch innerhalb des Lagers der Ministerialisten die Einigkeit zur Utopie gemacht hat.

So haben wir auch hier einen abgeschlossenen Kreis in der Entwicklung der „neuen Methode“, die in die Negation ihrer eigenen Ausgangspunkte mündet. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß Jaurès sich durch den Verlauf der Krise bis auf das letzte seiner ehemaligen Lieblingsworte zu sich selbst in Widerspruch setzen mußte. Das von dem Enfant terrible Cipriani im Comité général angeregte Plebiszit über die Millerand-Frage hatte eine ganze Reihe höchst unangenehmer Gutachten der eigenen Departementalföderationen der Partei zur Folge gehabt. Die Verlesung dieser Dokumente im Generalkomitee und ihre Veröffentlichung im Protokoll seiner Sitzungen mußte offenbar einen sehr unerwünschten Eindruck im Lande und im Ausland machen. Und da trat der große Verteidiger Dreyfusʼ, der glorreiche Entlarver des Generalstabs und seiner Fälschungs- und Vertuschungsmethoden, der unermüdliche Ritter der „toute la lumière“ mit ganzem Nachdruck für die – Nichtverlesung und Nichtveröffentlichung, vulgo Vertuschung und Unterschlagung der antijaurèsistischen Meinungsäußerungen ein. Und nun verstehen wir erst, was Jaurès meint, wenn er neulich in der „Petite République“ (vom 30. Januar 1902) schreibt: „Ich glaube,

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