Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 175

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gerade in der einheitlichen Beleuchtung aller Einzelerscheinungen unter einem gegebenen Gesichtspunkt.

Hingegen läßt sich aus der Grundauffassung des sozialistischen Opportunismus keine Handhabe zur Beurteilung jedes konkreten Falles ableiten. Besteht doch diese Auffassung gerade in der Abstreifung aller vorgefaßten verallgemeinernden Gesichtspunkte, in der Beurteilung jedes Einzelfalls nicht aus dem aprioristischen Prinzip, sondern lediglich aus seiner jedesmaligen konkreten Sachlage und nur unter dem ganz vagen und vieldeutigen Gesichtspunkt der „Nützlichkeit“ für die sozialistische Bewegung. Darüber jedoch, was in jedem Einzelfall „nützlich“, kann es offenbar jeweilig sehr viele Meinungen geben. Wenn zum Beispiel die Stellungnahme zu einer Militärvorlage in Frankreich für jeden auf prinzipiellem Boden stehenden Sozialisten von vornherein eine Selbstverständlichkeit ist, stellt sie für einen von den Fesseln des „Dogmas“ freien „praktischen“ Politiker ein sehr kompliziertes Problem dar, aus dem sich je nach der Lage des Ministeriums, je nach der Konstellation der Parteikräfte im Parlament, je nach den erwarteten unmittelbaren Folgen dieses oder jenes Ausfalls der Abstimmung, endlich je nach der verschiedenen Einschätzung aller dieser Momente durch den einzelnen mit gleichem Rechte eine Ablehnung, eine Annahme oder eine unschlüssige Enthaltung ergibt. Der „praktische Politiker“, der anfangs, solange es die Herrlichkeiten des „Sich-nicht-Festlegens“, der „freien Hand“ in der Theorie zu preisen gilt, mit Goethe zuversichtlich ausruft: „Ich habʼ mein Sach auf nichts gestellt, drum istʼs so wohl mir in der Welt!“ muß, sobald er in den Wirrwarr der bunten Lebenserscheinungen ohne jeden Kompaß hinabtaucht, nur zu oft mit Faust aufseufzen: „Da stehʼ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“ Die französischen Sozialisten, die nach der siegreichen Überwindung jeder Dogmenstarrheit auf den Wellen des bürgerlichen Parlamentarismus lossteuern sollten, ohne jede andere Richtschnur als die, daß der „sozialistische Minister“, ergo auch das ganze Ministerium, unbedingt am Ruder erhalten werden mußte, konnten unmöglich in ihrem Handeln die Einheitlichkeit bewahren.

Anscheinend hatte auch die „neue Methode“ des Sozialismus durch ihren Wortführer Jaurès zu der Ausbildung einer umfassenden, allgemeinen und einheitlichen sozialistischen Lehre geführt. Es gab in der Tat kein einziges Problem der Praxis und der Theorie, der Philosophie, der Ökonomie, der Politik, das Jaurès nicht seinerzeit in den Bereich seiner Betrachtungen in der „Petite République“ einbezogen hätte; ja, mehr als sonst jemand verstand es gerade Jaurès, Dinge und Fragen in geistige Verwandtschaft zu-

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