Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 610

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Eine maßlose Provokation

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Wenn irgendein Beweis für die völlige Blindheit nötig war, mit der die verantwortlichen Lenker der neudeutschen inneren und äußeren Politik das Land in unabsehbare Verwicklungen stürzen, nun ist er erbracht. Die deutschen arbeitenden Klassen sind zwar seit jeher an die stärksten Proben einer skrupellosen, nackten Interessenherrschaft gewöhnt. Allein eine so brutale Provokation, wie sie in der neuen Flottenvorlage[2] liegt, ist angesichts der allgemeinen Situation, des weltgeschichtlichen Moments, in der sie dem deutschen Volke präsentiert wird, sogar für den jetzigen Kurs etwas Außergewöhnliches. Wie mit einem grellen Scheinwerfer beleuchtet diese neue Zumutung an die Lammsgeduld der Arbeiterklasse nach allen Seiten hin den ganzen Wahnwitz der heutigen kapitalistischen Politik, den ganzen Widersinn der heutigen sozialen Zustände.

Seit Wochen und Monaten herrscht in den weitesten Kreisen der proletarischen Bevölkerung Deutschlands direkter Nahrungsmangel. Ganze Schichten fleißiger und ehrlicher Arbeitsmänner und -frauen sind durch einen zynischen Streich der agrarischen Beutepolitik zur Ernährung mit Fleischabfällen und Pilzen, zu langsamem chronischem Verhungern verurteilt. Alle Klagen, alle grollenden Proteste der ausgepowerten Volksmasse werden mit kaltem Lächeln von den mit Ministerportefeuilles ausgestatteten Kommis der agrarischen Sippe abgewiesen.

Und in diesem Augenblick, wo die Not sich zu einer öffentlichen Kalamität gestaltet, wo Hunderttausende Proletarier erbarmungs- und rettungs-

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[1] Siehe Bd. 1/1, S. 264, Fußnote 1.

[2] Am 17. November 1905 wurde eine neue Flottenvorlage veröffentlicht, die eine Erweiterung der deutschen Kriegsflotte, Vergrößerung der neu zu bauenden Schiffe und Verstärkung ihrer Armierung vorsah.