Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 611

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los dem furchtbarsten Elend preisgegeben werden, wird gleichzeitig als die erste große Aktion der Regierung und der bürgerlichen Mehrheitsparteien im Reichstage nicht etwa eine Vorlage zur Ausgestaltung der elenden Sozialgesetzgebung, nicht ein Notstandsgesetz zur Rettung der Unzahl bedrohter proletarischer Existenzen, nicht die schleunige Eröffnung der Grenze im Osten, sondern – eine Mehrforderung von einer halben Milliarde Mark für Panzerkreuzer, Torpedodivisionen und Vermehrung der Marinemannschaften angekündigt! Auf das stärkste Stück der junkerlichen Beutepolitik wird das stärkste Stück des industriellen Raubzugs aufgetrumpft, nachdem die Volksmasse von den Ostelbiecn geweißblutet worden, wird sie zum „Ausgleich der Interessen“ nunmehr einer Handvoll Panzerplattenfabrikanten und dem sonstigen Häuflein direkter Interessenten unserer Flotten- und Weltpolitik als wehrloses Objekt vorgeworfen.

Doch nicht genug. Die neue ungeheure Vermehrung der Ausgaben für eine abenteuerliche Welt- und Kolonialpolitik wird dem deutschen Volke gerade in einem Augenblick zugemutet, wo neue grauenhafte Enthüllungen über die wilde Roheit der kapitalistischen Kolonialpolitik in den französischen wie in den belgischen Kolonien jede Unterstützung dieses barbarischen Treibens nicht nur zu einem wirtschaftlich und politisch verhängnisvollen, sondern auch zu einem verbrecherischen Unternehmen stempeln. Noch mehr: Der neue Sturmlauf einer unverantwortlichen und kopflosen Flottenraserei wagt sich gerade in dem Moment hervor, wo ein kaum abgeschlossenes blutiges Drama der Weltpolitik im Fernen Osten auch dem Blödesten die Augen dafür öffnet, wie sehr die Sozialdemokratie mit ihren Warnungen vor den furchtbaren Gefahren des weltpolitischen Malstroms recht hatte. Jeder halbwegs zurechnungsfähige Politiker muß sich darüber klar sein, daß der Ausgang des Russisch-Japanischen Krieges[1] nicht etwa ein Abschluß, sondern umgekehrt bloß der Beginn eines neuen Kapitels weltpolitischer Händel und Kämpfe im Osten ist, die je weiter, je unübersehbarer, je gewaltiger werden. Sich in diesen totbringenden Strudel durch maß- und endlose Rüstungen stürzen, zugleich aber in der ohnehin gespannten internationalen Lage nach dem jüngsten Marokkokonflikt[2] durch provokatorische Flottenvermehrungen neue Konfliktmomente schaffen, das ist ein frevelhaftes Spiel mit den Schicksalen

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[1] Siehe S. 457, Fußnote 1.

[2] Am 31. März 1905 war Wilhelm II. in Tanger gelandet und hatte für Deutschland Konzessionen zur Ausbeutung der Bodenschätze Marokkos gefordert. Dadurch sollte verhindert werden, daß Frankreich, das diese Rechte für sich beanspruchte, seine Positionen in Marokko verstärkte. Diese Provokation beschwor eine Krise in den internationalen Beziehungen herauf, die 1906 mit einer Niederlage für den deutschen Imperialismus endete.