Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 612

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der Millionen, wie es davon sogar in Preußen-Deutschland nicht viel Beispiele gibt.

Allein, das wichtigste Moment ist: Der derbe Faustschlag der herrschenden kapitalistischen Interessenpolitik wird dem deutschen Proletariat gerade in dem Augenblick verabreicht, wo vom Osten die schönsten Blitze und das herrlichste Donnerwetter der russischen Revolution in die dumpfe Dunkelkammer der preußisch-deutschen Rückständigkeit herüberleuchten und alle schwarzen Winkel der baufälligen Baracke mit erschreckender Deutlichkeit aufzeigen. Die russische Revolution ist, wie jeder denkende Politiker, jeder ernste soziale Beobachter weiß, bloß der Prolog einer stürmischen Periode scharfer Klassenkämpfe in allen kapitalistischen Staaten. Deutschland ist vielleicht der nächste in der Reihe dieser Staaten, in denen eine langjährige skrupellose Klassenherrschaft von der Volksmasse zur Rechenschaft gezogen wird. Und eben jetzt beeilt sich die deutsche Regierung, mit Hilfe der bürgerlichen Parteien der Arbeiterklasse vorzudemonstrieren, daß sie nicht im Traume daran denkt, dem heraufziehenden internationalen Volksgewitter etwa durch eine demokratische, fortschrittliche Gestaltung der inneren politischen Zustände den Wind aus den Segeln zu nehmen, den Sturm hinauszuschieben, ihn milder zu gestalten. Im Gegenteil: Mit neuen Rüstungen zu Lande und zu Wasser wird das arbeitende Volk Deutschlands just in dem Augenblicke traktiert, als die russische Revolution ihm wieder einmal die alte Wahrheit unter Blutströmen illustriert, daß der Militarismus und Marinismus von der herrschenden Reaktion stets und überall vor allem nicht gegen den äußeren, sondern gegen den inneren Feind, nicht als Schutzwall des „Vaterlandes“, sondern als Bollwerk der Klassen- und der dynastischen Herrschaft gebraucht wird.

Weiter: Die neue Flottenvorlage ist nur eine „Ergänzung“ zu dem großen Flottengesetz vom Jahre 1900[1], mit dem Deutschland den ersten waghalsigen Sprung ins Verderben einer uferlosen abenteuerlichen Weltpolitik getan hat. Diese „Ergänzung“ ist aber wie auch die früheren nichts anderes als eine systematische Vernichtung, eine Illusorischmachung des verfassungsmäßigen Bewilligungsrechts der Volksvertretung. Der Reichstag beschließt in seiner bürgerlichen Majorität ein Flottengesetz, eine bestimmte finanzielle Aufwendung, damit nach einem, nach zwei Jahren die Regierung mit neuen „Ergänzungen“ zu dem Gesetz herausrückt, die wieder von der bürgerlichen Majorität unter dem Vorwand bewilligt werden, daß man durch den bereits begonnenen Bau der neuen Flotte vor ein Fait accompli, vor eine fertige Tatsache, gestellt sei, so daß die „unvor-

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[1] Siehe Bd. 1/1, S. 616, Fußnote 2.