Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 382

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Im Rate der Gelehrten

Es gibt noch Dinge, die in unserer hastigen, sprunghaften Zeit einen fixen Punkt bilden, bei dem der abgehetzte Gedanke ausruhen und das verlorene Bild der Ewigkeit wiederfinden kann: Es ist dies die würdige Gestalt des deutschen Professors. Seit dreißig Jahren glaubt der deutsche Professor fest und unerschütterlich an seinen historischen Beruf, die Geschichte zu erklären, indem er sie zerfasert, das soziale Leben zu beeinflussen, indem er sozialpolitische Einsicht tauben Ohren predigt, und die Wissenschaft in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts zu stellen, indem er der herrschenden Reaktion dient.

Wie vor dreißig Jahren eröffnete Professor Schmoller die diesjährige Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik[1] mit dem Hinweis auf seine hehre Aufgabe: inmitten der erbittertsten Klassen- und Parteikämpfe „ein breites Gebiet des sozialen Gottesfriedens“ mit der gelehrten, gottesfürchtigen und königstreuen Brust zu verteidigen. Wie seit dreißig Jahren setzten sich die Leuchten der offiziellen Sozialwissenschaft: die Schmoller, Brentano, Sombart, Philippovich, zusammen mit Staatsministern a. D., geheimen Hofräten und Vertretern des Großkapitals, um sich und der Welt wieder einmal zu beweisen, daß ihre dreißigjährige sozialpolitische Predigt in den Wind geredet war und daß die Professorenzunge an sozialreformerischer Einsicht nicht um ein Jota mehr aus dem steinigen Boden des kapitalistischen Staates hervorzuzaubern vermag, als was ihm die eiserne Faust des proletarischen Klassenkampfes jeweilig abtrotzt.

Wenn etwas der diesjährigen Generalversammlung des Schmollerschen Vereins ein besonderes Relief gab, so war es der Umstand, daß gerade

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[1] Die Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik fand vom 14. bis 16. September 1903 in Hamburg statt.