Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 383

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einen Augenblick zuvor der wenn nicht erste, so doch höchstwahrscheinlich letzte Versuch kläglich in die Brüche gegangen war, den Grundgedanken der gelehrten Flottenapostel des sozialen Friedens zur Achse der praktischen Politik zu machen.[1] Die Naumannsche nationalsoziale Partei seligen Angedenkens war nichts anderes als die fleischgewordene Idee der Vereinigung des „sozialen Gottesfriedens“ mit dem gepanzerten Gottesgnadentum, und ihr tragikomischer Selbstmord nach siebenjährigem humoristischem Dasein bildete die denkbar lustigste satirische Glosse zu den Schmollerschen Schlußworten bei der Hamburger Generalversammlung: vivant sequentes!

In der diesjährigen Tagung hatten aber die gelehrten Herren auch noch eine besondere Gelegenheit, von ihren theoretischen Leistungen vor aller Welt die Probe abzulegen, und zwar an einem Hauptproblem des heutigen wirtschaftlichen Lebens, an dem Problem der Krise[2]. Die Ableugnung der Marxschen Krisenlehre, speziell der Unvermeidlichkeit der Krisen in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und des periodischen Krisenzyklus, bildete früher schon, namentlich aber während der letzten Prosperitätsperiode, den eisernen Bestand der sozialreformerischen Entwicklungstheorie, die in unseren Reihen in dem Revisionismus ihr Echo fand. Die Kartelle einerseits, die Gewerkschaften andererseits waren es, auf denen die jüngste Lehre von dem harmonischen, ungestörten Fortgang der kapitalistischen Wirtschaft wie auf zwei Pfeilern ruhte und die es den offiziellen Vertretern der „deutschen Wirtschaft“ ermöglichte, zugleich die „genialen Unternehmer“ der Scharfmacherverbände wie die gewerkschaftlich ringenden „Herren Arbeiter“ ganz harmonisch an das liebende Herz zu drücken.

Der Ausbruch der gewaltigen Krise im Jahre 1900 hatte offensichtlich das Luftgebäude dieser Theorie unbarmherzig zerstört; unter ihrer eindringlichen Stimme verstummten alsbald auch die Lobeshymnen auf die rettende Wirkung der Kartelle, und auch in die Liebesverhältnisse der Breslauer außerordentlichen Wissenschaft mit den Herren Arbeitern[3] hat

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[1] Am 29. August 1903 hatte in Göttingen der Nationalsoziale Verein (Der 1896 von Friedrich Naumann gegründete Nationalsoziale Verein vertrat die imperialistische Expansionspolitik und versuchte, mit der demagogischen Forderung nach einem christlich-nationalen Sozialismus die Arbeiterklasse vom politischen und sozialen Kampf abzuhalten.) beschlossen, sich auf Grund seiner gescheiterten Politik unter der Arbeiterschaft aufzulösen. Zum anderen waren die führenden Vertreter der Nationalsozialen zu Anhängern der von der Freisinnigen Vereinigung verfochtenen Flotten- und Expansionspolitik geworden, die ihre Reihen durch Nationalsoziale verstärken wollte.

[2] Zwischen 1900 und 1903 hatte die erste zyklische Krise den Kapitalismus im Weltmaßstab erschüttert. Lenin charakterisierte die Weltwirtschaftskrise als einen Wendepunkt in der Geschichte der Monopole, mit der sich der Übergang zum Imperialismus vollzog.

[3] Rosa Luxemburg bezieht sich auf Werner Sombarts Schrift: Dennoch! Aus Theorie und Geschichte der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, Jena 1900, in der er die Klassenharmonie preist. (Siehe dazu GW, Bd. 1/1, S. 767–790.)