Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 96

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/96

bürgerlichen Politikern in nichts unterscheiden, als daß sie nebenbei auch noch vom Sozialismus schwatzen! Ministerielle Sozialreformen? Aber ein jeder cäsaristischer Prätendent, jeder Abenteurer kann ein viel reichlicheres Quantum Sozialreformen „von oben“ versprechen als ein armseliger republikanischer Minister! Fünf Jahre der Experimente auf diesem Gebiet – und die französische Arbeiterklasse ist politisch bis auf die Knochen korrumpiert, zum geeigneten Werkzeug für alle bürgerlichen Erfolgspolitiker, Sozialreformer, für alle cäsaristischen Spekulanten degradiert.

Jaurès, der unermüdliche Verteidiger der Republik, der den Boden für den Cäsarismus bereitet – es klingt wie ein schlechter Scherz. Aber solche Scherze bilden den alltäglichen Ernst der Geschichte. Es ist das ständige Los des bürgerlichen Politikers, den Zipfel einer kathedersozialistisch-professoralen Nachtmütze zu erfassen, wenn er mit der Hand den Sirius zu greifen glaubt, und dem Teufel die Ernte zu bereiten, wenn er für den Herrgott sät. Nur der Sozialismus bietet die Handhabe, die Wirkungen bewußt aus den Ursachen abzuleiten und die Geschichte zu eigenen Zwecken zu führen, statt sich von ihr an der Nase herumführen zu lassen. Wer aber die sozialistischen Grundsätze verleugnet, und mag er dem Sozialismus selbst zu dienen sich einbilden, wird aus dem Meister zum Werkzeug seines Tuns und erweist sich als der Gefoppte just in dem Augenblick, wo er die Geschichte zu überlisten gedenkt.

III

Während der französische Sozialismus heute mehr denn je von der Verwirklichung der Einigkeit entfernt scheint, keimt in Wirklichkeit aus der Zersplitterung selbst die feste Einigkeit zusehends empor. Es ist dies der Zusammenschluß der alten sozialistischen Organisationen und ihrer Alliierten: der Französischen Arbeiterpartei, der Sozialistisch-revolutionären Partei und der kommunistischen Allianz.

Dank der Krise der letzten Jahre und angesichts des Aufkommens der „neuen Methode“ haben die alten Parteien, die jahrzehntelang in stillem Guerillakrieg oder bestenfalls in gänzlicher Entfremdung gelebt hatten, die Gemeinsamkeit ihrer Prinzipien und ihrer Taktik wiedergefunden und wirken seitdem in allen wichtigeren Fragen völlig harmonisch, in der Aktion ein einziges Ganzes. Die historisch gewordene Zersplitterung – auch unter jetzt Gleichgesinnten – läßt sich freilich nicht von heute auf morgen spurlos entfernen und durch völlige Verschmelzung ersetzen. Aber den Weg

Nächste Seite »