Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 92

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bleiben Millerands im Ministerium allein den Streitpunkt bildete, offen und entschlossen fallengelassen, die Situation hätte noch gerettet und die Einigung ermöglicht werden können. Heute aber, nachdem Jaurès umgekehrt durch das Festhalten an der Ministerschaft Millerands zu einer gänzlichen Revision der sozialistischen Begriffe geführt worden ist und eine ganz „neue Methode“ des Sozialismus geschaffen hat, die bereits in der parlamentarischen Aktion seiner Freunde zur Tat geworden, läßt sich der Streit nicht mehr durch die formalistische Lösung der Ministerfrage aus der Welt schaffen. Heute handelt es sich nicht mehr darum, ob Millerand im Kabinett bleiben soll oder nicht, sondern um die ganze Summe der politischen und ökonomischen, prinzipiellen und taktischen Fragen, die das Wesen des sozialistischen Kampfes ausmachen. Es sind heute zwei Weltanschauungen, die einander entgegenstehen und zwischen denen der parlamentarische Kampf das Tischtuch zerschnitten hat.

Und wenn Jaurès, der selbst mit jenem Mute des Gedankens und jener Kraft der Überzeugung, die ihm eigen sind, alle Konsequenzen aus dem ersten Fehltritt seiner Gruppe entwickelt hat, heute mit Erstaunen vor der Unmöglichkeit der Einigung steht, für deren Propagierung er mehr als sonst jemand in Frankreich getan hatte, so muß er sich sagen: Tu l’as voulu, Georges Dandin!

II

Die Geschicke der sozialistischen Einigkeit, die eines der wichtigsten Probleme des Sozialismus darstellt, hängen naturgemäß mit der inneren Entwicklung der Arbeiterbewegung zusammen.

Sobald die Notwendigkeit des politischen Kampfes zu einem der Grundsätze des Sozialismus geworden war, wurde sie zugleich zur Voraussetzung der Einigkeit unter den Sozialisten und zur Scheidewand zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten. Marx selbst, dessen ganze Kraft in der alten Internationale sieben Jahre lang auf das Zusammenhalten der buntscheckigen Elemente des Sozialismus gerichtet war, führte zum Schlusse eine Spaltung mit den Bakunisten herbei und zeigte damit, daß zur Grundlage der sozialistischen Einigkeit die Gemeinsamkeit des sozialistischen Endziels allein unzureichend, vielmehr auch noch die gleichartige Auffassung vom Kampfe um dieses Endziel erforderlich ist.

Dieselbe Richtschnur hält die internationale Sozialdemokratie auch bis heute inne, indem sie auf ihren neuesten Kongressen (Paris, Brüssel, Zü-

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