Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 91

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So gestaltete sich der Kampf von Vaillant und Genossen gegen die Reaktion zu einem Kampfe zwischen den beiden Flügeln der sozialistischen Kammergruppe, und jede Beratung erweiterte die Kluft zwischen ihnen. Aus der parlamentarischen Session, in die sie vereint und im Bunde eintraten, gehen sie als zwei feindliche Lager heraus.

Die Aktion im Parlament hat die Gegensätze zwischen den beiden Richtungen des französischen Sozialismus entfacht, potenziert und an den Tag gelegt, aber sie hat sie nicht geschaffen. Der Gegensatz in der parlamentarischen Taktik ist nur eine Teilerscheinung des tiefliegenden Gegensatzes in der gesamten Auffassung vom sozialistischen Kampfe.

Hinter der widerspruchsvollen Haltung bei der Budgetabstimmung steckt die grundverschiedene Ansicht über die bürgerliche Regierung: Für die französischen Sozialisten alter Schule ist sie nur der geschäftsführende Ausschuß der Bourgeoisie, dem man jegliche Existenzmittel verweigert; für die Anhänger der „neuen Methode“ ist sie die Interessenwalterin aller Klassen, die sich im Ministerium vertreten lassen und die es unterstützen.

Dem verschiedenen Verhalten zur „republikanischen Majorität“ der Kammer liegen entgegengesetzte Begriffe von den bürgerlichen Parteien zugrunde: den Guesde, Vaillant und Genossen sind sie trotz verschiedener Nuancen ein feindliches Lager, dem nur durch rücksichtslosen Kampf Zugeständnisse abgepreßt werden können, für die Gruppe Jaurès–Viviani erscheinen einzelne Fraktionen der Bourgeoisie als natürliche Bundesgenossen des Proletariats in seinem Marsche zum Sozialismus und die Erhaltung dieser Bundesgenossenschaft als ein Ziel, das durch völlige Preisgabe der selbständigen proletarischen Politik nicht zu teuer erkauft ist.

Und der Sozialismus selbst ist für die einen das Resultat der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und einer völligen sozialen Umwälzung, für die anderen das Ergebnis unmerklicher Verschiebungen im Schoße der kapitalistischen Unternehmung und des bürgerlichen Ministeriums.

Man versteht deshalb, wie wenig Jaurès mit den Tatsachen rechnet, wenn er erklärt, der eigentliche Streitpunkt zwischen den beiden sozialistischen Lagern sei die Ministerfrage, die durch seinen Vorschlag, die sozialistische Ministerschaft in Zukunft an die Zustimmung der Zweidrittelmajorität der Partei zu binden, in höchst einfacher Weise gelöst werde. Der Fall Millerand[1] ist gewiß die Quelle der heutigen Differenzen. Und hätten ihn Jaurès und seine Freunde gleich im Anfang der Krise, solange das Ver-

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[1] Alexandre-Etienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten.