Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 512

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Masse, die gestern noch zarengläubig, vielleicht halb religiös auf die Straße gegangen ist, ist heute schon von allen Illusionen so rasch und gründlich kuriert, wie sie durch Jahre und Jahrzehnte der sozialistischen Agitation nicht hätte kuriert werden können.

In demselben Maße aber, wie solche störenden Beimischungen, solche Überbleibsel einer rückständigen Weltanschauung abgestreift werden – und das ist, wie gesagt, in revolutionären Epochen ein Werk weniger Wochen, ja Tage –, in demselben Maße werden auch zufällige Führer und Einflüsse auf die Seite geschoben, und die Leitung geht naturgemäß immer mehr in die Hände desjenigen festen Kerns der revolutionären Massen über, der von Anfang an die Ziele und Aufgaben klar sieht, d. h. in die Hände der Sozialdemokratie. Sie ist alsdann nämlich die einzige, die ihre Überlegenheit bewahrt, die der Situation gewachsen ist, gerade weil sie die grausam zerstörten Illusionen nicht teilte und nicht nährte, ferner weil sie weiter sieht und der nach der ersten Niederlage gewöhnlich stutzenden und niedergeschlagenen Masse den weiteren Weg zeigt, sie mit Mut und Hoffnung, mit Zuversicht auf das schließliche Gelingen, auf das eiserne Muß der Revolution und ihres Sieges erfüllt.

II

Wenn man von den äußeren Erscheinungsformen, namentlich des ersten Moments der Revolution in Petersburg absieht, so stellt sie sich als eine moderne Klassenerhebung von ausgesprochen proletarischem Charakter dar.

Zunächst ist der Umstand, daß die Petersburger Arbeiter mit der Bitte um politische Freiheiten zum Zaren zogen, in der Hoffnung, von seiner Einsicht und Güte etwas zu erreichen, an sich bei näherem Zusehen gar nicht so wichtig, wie wohl allgemein unter dem ersten Eindruck angenommen wurde. Ausschlaggebend ist nicht die Frage, in welcher Form die Arbeiter ihre Forderungen stellten, sondern die Frage: Welche waren diese Forderungen? Und in dieser Hinsicht ist die Liste der politischen Reformen, die der Petersburger Massenzug der Arbeiter dem Zaren vorlegen wollte, ein unzweideutiger Ausdruck ihrer politischen Reife und des Klassenbewußtseins, denn diese Liste war nichts anderes als die Zusammenfassung der Grundartikel einer demokratischen Verfassung, es war das politische Programm der russischen Sozialdemokratie, ausgenommen dessen Forderung einer Republik.

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