Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 513

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/513

Diese demokratischen Freiheitsforderungen wurden aber der Petersburger Arbeiterschaft weder durch den Priester Gapon noch durch dessen von Gendarmen geduldeten Arbeiterverein nahegelegt, der gerade zur Aufgabe hatte, alle „Politik“ von den Arbeitern fernzuhalten. Diese Forderungen waren das Leitmotiv der politischen Agitation der Sozialdemokratie. Und sogar wenn authentische Berichte von Augenzeugen darüber nicht vorliegen würden, wie in den letzten stürmischen Tagen vor dem 22. Januar in den Versammlungen des Gaponschen Vereins die sozialdemokratischen Arbeiter als Redner auftraten, wie sie durch die Darlegung ihrer Auffassung und ihrer Bestrebungen die Arbeitermasse regelmäßig mitzureißen verstanden hatten und so zu tatsächlichen Führern der Bewegung wurden, auch dann würden die von dem Petersburger Proletariat aufgestellten Forderungen an sich genügen, um uns die Überzeugung beizubringen: Das ist ein Produkt der sozialdemokratischen Aufklärungsarbeit, das ist und kann nur ein Resultat einer jahrzehntelangen Agitation sein, wenn es auch äußerlich als das Werk weniger Tage erscheinen mag.

Aber nicht bloß der Wortlaut der Petersburger Forderungen übertraf schon durch die klare Entschlossenheit und den radikalen Zug die schwächlichen, meist in irgendeinem Punkte zweideutigen Petitionen der liberalen Kongresse, Bankette und Beratungen. Auch der ganze Charakter dieser Forderungen sowie ihrer Motivierung verriet einen ausdrücklich proletarischen Zug. Vergessen wir nicht, daß unter den sofort zu ergreifenden Maßnahmen, die die Petersburger Arbeiter forderten, obenan der Achtstundentag stand. Damit war die soziale Seite der Bewegung und die Klassengrundlage des freiheitlichen Programms ganz unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Ja in der Bittschrift an den Zaren selbst, die als Einleitung zu den Forderungen entworfen war, klingt als stärkste Note der Gegensatz zu den kapitalistischen Ausbeutern; die Notwendigkeit der politischen Reformen wird ausdrücklich und dem ganzen Sinne nach mit der Klassenlage der Arbeiterschaft begründet, mit der Notwendigkeit, politische und rechtliche Bewegungsfreiheit zu haben, um den Kampf mit der Ausbeutung des herrschenden Kapitals führen zu können.

Hierin liegt ein außerordentlich wichtiges Moment zur Beurteilung der ganzen Bewegung in Rußland. Man ist in Westeuropa im allgemeinen leider zu sehr geneigt, nach der historischen Schablone die jetzige Revolution des Zarenreiches als eine ihrem Sinne nach rein bürgerliche Revolution zu betrachten, wenn sie auch durch besonderes Zusammentreffen sozialer Momente durch die Arbeiterklasse ins Werk gesetzt und ausgefochten

Nächste Seite »