Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 514

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wird. Die Vorstellung, als handelte das Proletariat gegenwärtig in Rußland sozusagen in bloßer historischer Vertretung der Bourgeoisie, ist eine völlig irrige. Solche einfachen mechanischen Stellenwechsel von Klassen und Parteien im geschichtlichen Prozeß – wie in der Quadrille – existieren gar nicht, und durch den Umstand selbst, daß es heute in Rußland die Arbeiterklasse, und zwar eine in hohem Maße klassenbewußte, von der Sozialdemokratie seit vielen Jahren systematisch aufgeklärte Arbeiterklasse ist, die um die bürgerliche Freiheit kämpft, bekommt auch der Charakter dieser Freiheit und dieses Kampfes um sie eine ganz eigentümliche Physiognomie. Es ist nicht mehr, wie es seinerzeit in Frankreich, in Deutschland und überall in den bürgerlichen Ländern war, ein Kampf um die rechtlichen und politischen Garantien für eine ungehinderte wirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus und politische Herrschaft der Bourgeoisie im Lande, sondern ein Kampf um die politischen und rechtlichen Garantien eines ungehinderten Klassenkampfes des Proletariats gegen die wirtschaftliche und politische Herrschaft der Bourgeoisie.

Freilich, formell wird auch im schließlichen Ergebnis der jetzigen revolutionären Epoche in Rußland nicht etwa die Arbeiterklasse, sondern die Bourgeoisie die Zügel des Staates, die politische Herrschaft ergreifen. Aber diese Situation selbst wird in Rußland in unvergleichlich höherem Maße als z. B. nach der Märzrevolution in Deutschland von vornherein in sich einen tiefgehenden Zwiespalt, einen Widerspruch bergen, der für die weitere politische Entwicklung Rußlands bestimmend wird. Ferner aber kann auch der Verlauf der revolutionären Periode, an deren Anfang wir erst gegenwärtig stehen, einen für die Sozialdemokratie besonders wichtigen und verwickelten Verlauf nehmen.

Angesichts einer solchen Macht an Klassenbewußtsein und Organisation, wie die Revolution seit dem 22. Januar im ganzen Reiche entfaltet hat, angesichts dessen, daß seit dem ersten Blutbad in Petersburg die ganze Bewegung nunmehr zweifellos in den Händen der Sozialdemokratie liegt – sowohl in Petersburg wie in der Provinz, wie auch in Russisch-Polen und Litauen und im Kaukasus –, kann der weitere Verlauf der Revolution – die nicht nach Wochen, sondern nach Jahren gerechnet werden muß – unmöglich dieselben Bahnen wandeln wie z. B. im „tollen Jahre“ in Deutschland. Die Arbeiterklasse, also auch die Sozialdemokratie, wird berufen sein, in viel entscheidenderer Weise in die Ereignisse einzugreifen, für das Proletariat viel mehr die unmittelbaren Klassenforderungen durchzusetzen zu suchen, als es je in einer bürgerlichen Revolution möglich und

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