Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 271

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Düsseldorf und Stuttgart

[1]

Leipzig, 21. Juni

Gleichzeitig tagen in Deutschland zwei wichtige Kongresse für soziale Arbeiterfürsorge: der internationale Arbeiterversicherungskongreß[2] und der vierte deutsche Gewerkschaftskongreß[3]. Hier wie dort soll dasselbe Werk – die praktische Sozialreform betätigt werden. Und doch gestalten sich die beiden Kongresse zu einer eklatanten Kundgebung des Gegensatzes: hie bürgerliche, hie proletarische Sozialreform.

In Düsseldorf eine erlauchte Gesellschaft: wirkliche und geheime Oberregierungsräte, Minister, Bürgermeister, Leuchten der offiziellen Wissenschaft, Repräsentanten des großen industriellen Geldsacks; in Stuttgart die homogene graue Masse des deutschen Arbeitervolks.

In Düsseldorf führt das geistige Zepter – Graf Posadowsky, der Vater der Zuchthausvorlage[4], und der lange Möller[5], der zärtliche Pflegevater der Unternehmerkartelle. Sie sind es, die das internationale Exzellenzenkonventikel der offiziellen bürgerlichen Sozialreform als Wirte begrüßen, ihm seine Pflichten vor die Augen führen, ihm die Aufgaben stecken.

Die Milderung und Ausgleichung „der tiefen Gegensätze, die das lebende Geschlecht belasten“ – dies der vom Staatssekretär Posadowsky formulierte Zweck der offiziellen Sozialreform.

Und als Antwort darauf erklärt am gleichen Tage der Gewerkschaftskongreß: „Zwischen der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerk-

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er wurde in die von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs aufgenommen.

[2] Der internationale Arbeiterversicherungskongreß fand vom 17. bis 24. Juni 1902 in Düsseldorf statt.

[3] Der vierte Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands fand vom 16. bis 21. Juni 1902 in Stuttgart statt.

[4] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.

[5] Gemeint ist der Großindustrielle Theodor Möller, von 1901 bis 1905 preußischer Handelsminister.