Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 171

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stammelt immer noch etwas von einem Vorschreiten „vers un programme toujours plus hardi“ (zu einem immer kühneren Programm), von einem „renouveau démocratique“ (demokratischen Frühling). Aber diese Melodien Jaurèsʼ wirken bereits wie die guten alten Arien aus den Verdischen Opern, die einst im sonnigen Italien auf der Lippe jedes schwarzäugigen lustigen Schusterjungen wie das Signal eines Volksfrühlings tirilierten, jetzt aber nur aus dem toten Mechanismus der Drehorgel mit gräßlicher Monotonie hervorkreischen: Tempi passati!

Und der Leiermann selbst schaut mit gelangweiltem und zerstreutem Gesicht drein; man sieht, es ist nur die geübte Hand, die die gewohnte Kurbel dreht, der Geist ist nicht dabei.

II

Der Abschluß der Episode Millerand macht sich auch im eigenen Lager Jaurèsʼ geltend. Die Krise, die es zusammenführte und zusammenhielt, ist vorbei, und die erst vor einem Jahre formell geeinigte Partei[1] zerfällt rapid in Zersetzung.

Das Problem der Einigkeit, das in Frankreich infolge geschichtlicher Umstände eine besonders scharfe Form angenommen hat, ist für den Sozialismus in jedem Lande in gewissen Zeitpunkten eine Lebensfrage. Nicht nur ist der Ausgangspunkt der sozialistischen Arbeiterbewegung stets und naturgemäß eine Vielheit von Gruppen und Richtungen. Auch in ihrer Weiterentwicklung ist die bereits einmal geeinigte sozialdemokratische Partei jedes Landes Differenzierungen in ihrem Schoße, also neuen dezentralisierenden Tendenzen unterworfen. Die sozialistische Einigkeit ist somit nicht ein einmaliges, vorübergehendes Problem in der Arbeiterbewegung, sondern vielmehr ein ständiges Problem, dessen jeweilige Lösung im richtigen Verhältnis zur prinzipiellen und taktischen Selbsterhaltung der Arbeiterpartei ebenso immer von neuem geprüft werden muß wie das andere, mit ihm eng verwandte Problem: des richtigen Gleichgewichtes zwischen praktischer Arbeit und den Endzielen des Sozialismus.

Im allgemeinen besagt schon der einfache, gesunde Menschenverstand, daß eine organische Einigkeit der sozialistischen Streitkräfte nur auf dem Boden einer gemeinsamen Auffassung von den Aufgaben und Mitteln des Kampfes möglich ist. Allein, die Orakelsprüche des „gesunden Menschen-

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[1] Auf dem Kongreß in Lyon vom 26. bis 28. Mai 1901 hatten sich alle um Jean Jaurès gruppierten Kräfte enger zusammengeschlossen. (Siehe dazu Rosa Luxemburg: Nach dem Kongreß. In: GW, Bd. 1/2, S. 98–107.)