Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 172

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verstandes“ bieten im Grunde genommen hier wie in den meisten Fällen nur einfache empirische Beobachtungen, nicht aber Erklärungen der fraglichen Erscheinung. Wenn es nur auf die Gemeinsamkeit der Auffassung vom sozialistischen Kampfe ankäme, dann könnte in Frankreich lediglich die Spaltung der sozialistischen Organisationen wie der Kammergruppe in eine ministerielle und eine antiministerielle Fraktion erklärlich erscheinen.

Indes die weiteren Schicksale der beiden Fraktionen, die jede auf dem gemeinsamen Boden einer hier auf die Teilnahme an der bürgerlichen Zentralregierung, dort auf den grundsätzlich oppositionellen Klassenkampf zugeschnittenen Auffassung gruppiert waren, zeigen uns eine frappante Verschiedenheit.

Während die „alten Organisationen“, trotzdem sie eine jahrzehntelange Gewohnheit der Absonderung, zum Teile sogar Feindseligkeiten in der Vergangenheit voneinander trennte, ohne viel Lärm, aber mit sicherem Schritte zur Verwirklichung der völligen Einigkeit untereinander gelangen, geht die aus losen, zum größten Teile unorganisiert gewesenen, deshalb sehr leicht zusammengefaßten Elementen gebildete Partei von Jaurès, kaum daß sie im letzten Sommer zusammengezimmert wurde, schon wieder aus dem Leime. Während früher stets die alten „Sektierer“ mit ihren „persönlichen Eifersüchteleien“ und ihrem „Sektengeist“ als die eigentlichen Störenfriede der Einigkeit galten, sehen wir jetzt die verblüffende Tatsache, daß die „Sektierer“ untereinander eine große, kompakte Partei, die Unité socialiste révolutionnaire, gebildet haben, während die Apostel der Einigkeit vom jaurèsistischen Flügel, nachdem sie endlich von den Quertreibereien der Sektierer befreit und abgeschieden worden sind, erst recht nach allen Richtungen zerstieben. Die Anträge gegen Millerand im Comité général der Partei Jaurèsʼ, die von Cipriani und anderen eingebracht wurden, das Plebiszit in der Millerand-Frage, der Austritt der drei Allemanisten, also der Vertreter der letzten von den alten Parteien aus dem Komitee, die Zurückziehung der Vertreter einiger autonomer Föderationen von diesem Komitee, die neuliche Kundgebung Vivianis in der „République Sociale“, de Pressensés im „Mouvement Socialiste“, Jean Longuets in der „Neuen Zeit“ – das alles sind ebenso viele Marksteine des unaufhaltsamen Zerfalls der jaurèsistischen Partei.[1]

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[1] Besonders interessant sind die Äußerungen Vivianis. eines der treuesten ehemaligen Parteigänger Millerands und Jaurèsʼ. „Man muß entschieden blind sein“, schreibt er, „um nicht zu sehen. Das Assoziationsgesetz, preisgegeben im Senat durch den Ministerpräsidenten, ... am anderen Tage die Maßregelung der Lehrer, dann die Wiedererweckung der ‚infamen Gesetze‘ (Anarchistengesetze), dann die Plattheiten vor dem Zaren im Augenblick, wo er eben in der Person Tolstois den Großmut und das Genie zugleich getroffen hatte, dann die Verteidigung auf der Tribüne der diebischen Missionare, gleichzeitig die Beschirmung der Finanzleute in Konstantinopel, dafür die Preisgabe der Armenier, um ihre Verteidigung Rußland zu überlassen, das jetzt andere Interessen hat als 1896, die Preisgabe des Prestiges unserer Nation als der Beschützerin des Rechtes; dann der freche Brief des Ministerpräsidenten an die Bergarbeiter, dann sein Rückzug vor einer Drohung hinter den Rücken der Arbeitskommission, gleichzeitig die Ernennung des Herrn Schneider von Creusot durch den Handelsminister in eine große Kommission. Und die Elogen auf die Rolle der Kirche im Orient, die Verfolgungen der Presse, die Haussuchungen bei den Schriftstellern! Geheime Aktenstücke, die einem Universitätsrat mitgeteilt wurden (in der Affäre Hervé)! Man kann ja kein Ende finden! Und wir fragen: Hätte man ein anderes Kabinett unterstützt, das all diese Schmach binnen weniger als sieben Monaten auf sein Haupt gehäuft hätte? Was hat man nicht alles dem Kabinett Dupuy gesagt, als es ähnlich handelte!“ [Fußnote im Original]