Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 173

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Der Kongreß in Tours[1] endlich zeigte uns die „große Partei“ auf ein trauriges Häuflein von Ministerialisten um jeden Preis zusammengeschmolzen. Diesmal sind die Spaltungen nicht eine Folge des Kongresses gewesen, sondern sie sind ihm vorausgegangen. Die Föderationen, die junge Gruppe des „Mouvement Socialiste“, alle, die vor kurzem noch den alten Parteien ihr Zurücktreten von den ersten „Einigungskongressen“ nicht verzeihen konnten, sind nun selbst denselben Weg gegangen und haben den Beratungen der Jaurèsisten in Tours den Rücken gedreht.

Am bezeichnendsten jedoch ist das Verhalten der parlamentarischen Vertretung dieses Flügels. Denn wenn die in Lyon geeinigte Partei von vornherein eine ziemlich bunte Gesellschaft umfaßte, von der man schwerlich eine Einigkeit in der Aktion erwarten konnte, so stellt dafür die parlamentarische Fraktion der Jaurèsisten die reinste Auslese von Anhängern des Ministerialismus dar, sozusagen die klassische Vertretung des Sozialismus, der aus opportunistischen Rücksichten zu jedem Opfer seiner Prinzipien jederzeit bereit ist.

Und nun bietet uns gerade das parlamentarische Verhalten dieser in sich einigen Gruppe ein ganz merkwürdiges Gegenspiel zu dem Verhalten der Fraktion Vaillant-Zévaès. Während diese Vertretung der „alten Organisationen“ seit ihrer Absonderung im Mai 1901 in allem wie ein Mann handelt, zerstiebt die jaurèsistische Parlamentsfraktion buchstäblich bei jeder einzelnen Abstimmung nach drei Richtungen – lediglich nach drei, weil es, wie L. Dubreuilh einmal witzig bemerkte, keine vierte gibt.[2]

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[1] Im März 1902 wurde auf dem Kongreß in Tours unter Führung Jean Jaurèsʼ die Parti Socialiste Français (Französische Sozialistische Partei) gegründet.

[2] Hier nur einige Proben aufs Geratewohl aus den letzten paar Monaten der Parlamentssession.

1. Am 5. November Interpellation Sembat über die türkische Expedition und Aufforderung, die

Regierung möge auf friedlichem Wege eine Verständigung der Großmächte zugunsten der Armenier

herbeiführen:

Alle Abgeordneten der Unité Socialiste Révolutionnaire: für;

Fraktion Jaurés: 6 Abgeordnete gegen, 20 für, 4 Enthaltungen.

2. Am 8. November Antrag Zévaès, die Kammer möge ein Gesetz zum Schutze der Eisenbahnarbeiter gleich nach der Diskussion über die individuelle Freiheit auf die Tagesordnung setzen:

Alle Abgeordneten der USR: für;

Fraktion Jaurès: 16 für, 13 gegen, 1 Enthaltung.

3. In derselben Sitzung und der gleichen Frage Vertrauensvotum an die Regierung:

USR: alle gegen;

Fraktion Jaurès: 22 für, 3 gegen, 4 Enthaltungen.

4. Am 12. November Art. I des Gesetzes über die Handelsmarine:

USR: alle gegen;

Fraktion Jaurès: 13 für, 6 gegen, 9 Enthaltungen.

5. In derselben Sitzung Antrag auf Abschaffung der Staatssubvention für Schiffe, die im Ausland erbaut sind:

USE: alle für;

Fraktion Jaurès: 17 für, 10 gegen, 3 Enthaltungen.

6. Am 25. November Chinaanleihe:

USE: alle gegen;

Fraktion Jaurès: 2 für, 25 gegen, 3 Enthaltungen.

7. Am 28. November Beglückwünschung der Chinatruppen:

USE: alle gegen;

Fraktion Jaurès: 8 für, 11 gegen, 11 Enthaltungen.

8. Am 2. Dezember Budget der Kolonialarmee:

USR: alle gegen;

Fraktion Jaurès: 4 für, 10 gegen, 16 Enthaltungen. [Fußnote im Original]