Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 220

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Das eigene Kind!

[1]

Leipzig, 29. April

Wenn einmal die Akten der Geschichte über die kapitalistische Gesellschaftsordnung geschlossen, alle ihre Verbrechen offen vor aller Augen liegen und des endgültigen Urteils einer späteren Menschheit harren werden, wir glauben, am schwersten wird unter diesen Verbrechen vor dem Antlitz der Urteilsfinderin Geschichte die Mißhandlung der proletarischen Kinder wiegen. Die Aussaugung der Lebenssäfte aus diesen wehrlosesten Geschöpfen, die Vernichtung der Lebensfreude gleich an der Schwelle des Lebens, die Verzehrung der Saat der Menschheit schon auf den Halmen – das ist mehr als alles, was die furchtbare Herrschaft des Kapitals an der Gegenwart sündigt, das sind auch noch Eingriffe mit mörderischer Hand in die Zukunft. Ich klage, rief Friedrich Engels in seinem klassischen Jugendwerke vom Jahre 1845, im Hinblick auf das Los der proletarischen Kinder, ich klage die Bourgeoisie geradezu des sozialen Mordes an![2]

Aber die Bourgeoisie in England wie in Deutschland wie überall kümmerte sich um solche öffentlichen Anklagen, um solche Peitschenhiebe ins Gesicht sehr wenig. Die kapitalistische Ausbeutung der Kinderarbeit gedeiht und blüht bis auf heute, und am Eingang des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Widerstand der Bourgeoisie gegen die ersten Gebote der Menschlichkeit und der sozialen Pflicht gegen Kinder des arbeitenden Volkes ebenso hartnäckig, ebenso geschlossen wie am Eingang des vorigen Jahrhunderts. Nur daß es jetzt keine Leonhard Homers mehr gibt, die auf den eisernen Widerstand des Kapitals mit eisernen Hammerschlägen un-

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er wurde in die von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs aufgenommen.

[2] Siehe Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd. 2, S. 338.