Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 221

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gebeugter Energie und Ausdauer in der Durchführung der Schulgesetze antworten.

Und noch eins: Jetzt gibt es eine moderne Hausindustrie, das Kapital hat jetzt ein pfiffiges Mittel erfunden, die proletarischen Kinder durch proletarische Eltern selbst ausbeuten zu lassen. Nach jahrzehntelangem Drängen der Sozialdemokratie macht endlich die deutsche Gesetzgebung den Anlauf zu einem ersten Schritt, um die Kinder auch vor der Ausbeutung der Hausindustrie zu schützen.[1] Und wie sieht diese Frucht der höchsten sozialpolitischen Anstrengung der Regierung und der bürgerlichen Parteien aus? Dasselbe Flickwerk, dieselbe Heuchelei, dieselbe hohle Nuß wie die gesamte bisherige deutsche Sozialreform! Die Kritik unserer Fraktion im Reichstag hat es schonungslos aufgedeckt und das jüngste Kind der Posadowskyschen Sozialpolitik gleich bei seiner Geburt mit dem rechten Namen genannt.

Aber ein Charakterzug des Entwurfs über den Kinderschutz verdient ganz besondere Beachtung durch seine typische Bedeutung für alle bürgerliche Sozialpolitik. Das fremde Kind wird bei der gewerblichen Ausbeutung auf Schritt und Tritt stärker geschützt als das eigene Kind des Hausindustriellen und Gewerbetreibenden. So schwächlich, so lahm der Schutz für die ausgebeuteten Kinder überhaupt, der Schutz für die eigenen Kinder ist doch noch schwächer, noch nichtiger, noch heuchlerischer.

Wo fremde Kinder nur vom zwölften Lebensjahre gewerblich beschäftigt werden dürfen, wird die Ausbeutung der eigenen schon mit ihrem zehnten freigegeben. Wo für fremde Kinder die Arbeitszeit gesetzlich festgesetzt, ist sie für eigene unbeschränkt. Für fremde Kinder soll das Gesetz gleich nach seinem Inkrafttreten volle Geltung haben, für eigene wird seine Anwendung in jedem einzelnen Falle binnen fünf Jahren vom Gutdünken des Bundesrates abhängen. Fremden Kindern wird wenigstens ein freier Sonntag gesichert, eigenen nur in einzelnen Fällen.

Das eigene Kind! Die bürgerliche Gesetzgebung sucht nach Ausflüchten, um der freien kapitalistischen Ausbeutung in jedem Gesetz, in jeder beschränkenden Maßregel ein Hintertürchen zu lassen, sie sucht nach Vorwänden und merkt gar nicht, wie blutigen Hohn sie mit sich selbst treibt, zu welch schreienden Paradoxen sie sich selbst versteigt.

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[1] Am 10. April 1902 hatte Arthur Graf von Posadowsky-Wehner dem Reichstag einen Gesetzentwurf zur „Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben“ übergeben. Danach sollten die Kinderarbeit weiter eingeschränkt und des unkontrollierten Ausbeutung von Kindern in elterlichen Betrieben erstmalig gewisse Grenzen gesetzt werden. Nach einer ersten Beratung im April 1902 im Reichstag wurde das Gesetz einer Kommission überwiesen und erst im März 1903 vom Reichstag angenommen.