Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 505

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gung rasch und intensiv. Nach dem ersten Zyklus der politischen Straßendemonstrationen stand vor der russischen Sozialdemokratie alsbald die schreckende Frage: Was weiter? Unaufhörlich kann man nicht bloß „demonstrieren“. Demonstration, das ist bloß ein Moment, eine Ouvertüre, ein Fragezeichen. Die Antwort zögerte der Sozialdemokratie auf den Lippen – sie war nicht leicht.

Da kam der Krieg.[1] Und mit ihm ergab sich die Lösung von selbst. Dasjenige Wort, welches in nüchterner, ruhiger Atmosphäre des grauen Alltags eine Abgeschmacktheit, eine Renommisterei, eine hohle Phrase ist – die Revolution wurde in Rußland von Anbeginn des Krieges zur Parole, die alle lebendigen Geister, alle Lebenstöne, das hellste Echo in der Arbeiterklasse weckte. Die Sozialdemokratie des ganzen Reiches agitierte, in harmonischem Unisono mit den Ereignissen des Krieges und mandschurischen Kanonendonner zur Begleitung nehmend, für die Idee der Revolution, des offenen Straßenkampfes, der Erhebung des Proletariats gegen den Zarismus. Alle Artikel der sozialdemokratischen Blätter, alle Hunderttausende von Flugblättern der Sozialdemokratie – der russischen, der polnischen, der jüdischen, der lettischen –, alle Versammlungen liefen in die Losung aus: Proletarische Erhebung gegen den Zarismus. Man agitierte mit etwas verhaltenem Atem und einiger Beklemmung in der Brust. Denn es gibt nichts Einfacheres als eine Revolution, die bereits stattgefunden, und nichts verteufelt Schwierigeres als eine, die erst „gemacht“ werden soll. Man rief die Revolution mit tausend Stimmen – und sie kam.

Wie sie immer kommt: „unerwartet“, obwohl seit bald zwei Jahrzehnten vorbereitet, unhörbar, über Nacht, wie eine steigende Wasserflut – allerlei Gerümpel und Balken, die sie unterwegs auffing, hoch auf dem geschwellten, ärgerlich-trüben Wasser tragend.

Wer glaubt, daß treibende Balken die Wasserflut regieren, mag glauben, daß Vater Gapon[2] der Urheber und Leiter der proletarischen Revolution in Rußland ist.

II

So genügt es denn, die Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im russischen Reiche einigermaßen zn kennen, um sich im voraus darüber klar zu sein, daß die jetzige Revolution, gleichviel welche Formen und welchen äußeren Anlaß sie zunächst aufweist, nicht aus der Pistole ge-

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[1] Siele S. 457, Fußnote 1.

[2] Siele S. 490, Fußnote 1.