Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 87

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den man die ganze Schuld abwälzen kann, als solchen natürlich die Französische Arbeiterpartei hinzustellen, die in ihrer Verstocktheit partout dem Lyoner Kongreß den Rücken kehrt, und so das ganze Mißlingen der Einigung als ein Werk des alten „Sektengeistes“ und der „persönlichen Eifersüchteleien“ unter den ehrgeizigen Parteiführern zu erklären.

Diese bequeme Auffassung der Sachlage findet scheinbar darin ihre Bestätigung, daß die beiden Einigungsprojekte, die einerseits vom sozialistischen Generalkomitee, andererseits von den Guesdisten und Blanquisten zusammen mit der kommunistischen Allianz ausgearbeitet worden sind, formell nur in untergeordneten Fragen voneinander abweichen. Es sind dies: die Aufnahme oder Nichtaufnahme der Gewerkschaften in die politische Partei, der Verteilungsmodus der Mitgliedskarten an die einzelnen Sozialisten direkt von der Zentrale oder durch die Vermittlung der alten Parteiorganisationen, endlich die Zusammensetzung des Zentralkomitees der geeinigten Partei. So wichtig an sich alle diese Fragen, namentlich die erste, sind, so ist es doch klar, daß sie als Grund für eine Spaltung der sozialistischen Reihen unmöglich ausreichen können. Und läge der heutigen Uneinigkeit unter den französischen Sozialisten nichts anderes als Differenzen über die Organisationsformen zugrunde, so würde das voraussichtliche Scheitern des Lyoner Kongresses eine unerklärliche Erscheinung bleiben.

Tatsächlich handelt es sich um ganz anderes als um Organisationsformalitäten.

I

So wenig versprechend der Ausgang des letzten allgemeinen französischen Kongresses in Paris im September 1900[1] war, so gestalteten sich doch bald darauf die Verhältnisse für das Einigungswerk ziemlich günstig. Einerseits vereinigte sich die Gruppe Vaillants, die mit den übrigen Sozialisten den Kongreß bis zu Ende mitgemacht und die Vorbereitung der endgültigen Einigung beschlossen hatte, bald darauf wieder mit der aus dem Kongreß ausgeschiedenen Französischen Arbeiterpartei, gleichfalls zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Einigungsplanes. Dadurch war das Bindeglied zwi-

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[1] In der Quelle: Oktober 1900. – Der zweite Kongreß der französischen Sozialisten fand im September 1900 im Wagramsaal von Paris statt. Der Kongreß scheiterte, da sich die Vertreter der Französischen Arbeiterpartei unter Führung von Jules Guesde mit den Anhängern Jean Jaurès nicht über die Gültigkeit verschiedener Mandate einigen konnten und jede Partei versuchte, die andere zu majorisieren. Jules Guesde verließ mit seinen Anhängern den Kongreß.