Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 88

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schen der ältesten sozialdemokratischen Partei Frankreichs und den übrigen sozialistischen Gruppen wiederhergestellt. Andererseits schickten sich die Unabhängigen Sozialisten an, ihre politische Taktik gleich den alten Parteien auf den Boden einer sozialistischen Opposition zu stellen. Bei der Eröffnung der Kammersession im November 1900 gaben Vaillant im Namen des linken, Viviani aber im Namen des rechten Flügels der Fraktion fast identische Erklärungen ab, wonach sie sich in ihrem Verhalten der Regierung gegenüber ganz unabhängig von allen Nebenrücksichten in jedem Falle ausschließlich nach den Interessen des Sozialismus richten wollten.

Für die Anhänger Millerands sollte die bevorstehende parlamentarische Session eine entscheidende Bedeutung haben. Es sollte sich darin herausstellen, ob die selbständige sozialistische Taktik im Parlament sich mit der Zustimmung zur sozialistischen Ministerschaft, ob die oppositionelle Haltung der Sozialisten sich mit ihrer Allianz mit der republikanischen Bourgeoisie vereinigen lasse.

Die Logik der Tatsachen erwies sich aber stärker als die feierlichen Versprechungen und der gute Wille der Gruppe Jaurèsʼ. Bereits die erste Probe, die Verhandlungen über das Amnestiegesetz[1], strafte die Erklärungen Vivianis Lügen: die Unabhängigen Sozialisten stimmten hier gleich, entgegen ihrer eigenen Überzeugung von der Notwendigkeit der Liquidation der Dreyfus-Affäre[2], für die Erstickung dieser Affäre. Bereits hier zeigte sichʼs, daß die Rücksichten auf das Kabinett den Anhängern Millerands eine oppositionelle Politik unmöglich machten. Der mit dem Amnestiegesetz inaugurierte politische Bankerott des radikalen Ministeriums setzte sich aber während der ganzen Session mit eherner Logik fort, bis er in dem Assoziationsgesetz seinen Abschluß fand. Und parallel damit entwickelten sich in der kurzen Zeitspanne von Dezember 1900 bis März 1901 mit überstürzender Hast alle inneren Konsequenzen der Ministerschaft Millerands für die parlamentarische Taktik seiner Anhänger.

Die Verhandlungen über das Gesetz gegen die Kongregationen sind eine fortgesetzte Reihe von Niederlagen und Kapitulationen der „Regierung der republikanischen Verteidigung“. Von vornherein eine Mißgeburt, gerichtet gleichzeitig gegen den Klerus und gegen die sozialistische Arbeiterschaft, purzelte das Gesetz im Laufe der Kammerdebatten in tollen Sprüngen immer tiefer und tiefer, indem alle Spuren der radikalen Reform darin Schritt für Schritt ausgemerzt, dagegen seine reaktionären Keime entwickelt wurden. Erst gab die Regierung ihr Projekt preis, die Ordens-

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[1] Am 19. Dezember 1900 hatte die französische Kammer ein Amnestiegesetz angenommen, wonach alle politischen Verurteilungen der letzten Jahre mit einigen Ausnahmen aufgehoben werden sollten. Außerdem sollten alle strafbaren Handlungen, die sich an die Dreyfus-Affäre knüpften, als nicht geschehen erklärt werden.

[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.