Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 504

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gen Lohnerhöhung als Ideal und den Unterhaltungen mit dem Fabrikinspektor an Stelle des Kampfes mit der Bourgeoisie. Und wie früher der einzelne Arbeiter im Zirkel gleichsam durch einen akademischen Kursus, nicht selten durch den kleinen Umweg über Darwin und die Vogtschen Rundwürmer und Plattwürmer, zu Marx geführt wurde, so sollte jetzt die gesamte Arbeiterschaft zum Klassenkampf wie eine große Schülerklasse durch Anschauungsunterricht erzogen und durch Gendarmen und Polizeiprügel bei den Streiks von selbst auf den witzigen Einfall von der Notwendigkeit der Abschaffung des Absolutismus gestoßen werden. Auf diese Weise wurde gewissermaßen den Subatowschen Experimenten[1] der Regierung vorgearbeitet, deren Kreaturen nachher in den behördlich erlaubten Arbeitervereinen dieselben Ratschläge ableierten, die der Reichskanzler Graf Bülow neulich im Reichstage den streikenden Bergarbeitern im Ruhrgebiet gab.

Zum drittenmal wurde die Agitationsweise einer unbarmherzigen Kritik unterzogen, und eine schroffe Umkehr zur klaren politischen Massenagitation bezeichnet das Ende der 90er Jahre. Und der Boden erwies sich so dankbar, so gut vorbereitet, daß die Idee des politischen Kampfes wie ein Blitz einschlug. Mit Beginn des Jahres 1901 wurde eine neue Phase – die politischer Massendemonstrationen im Anschluß an akademische Unruhen – eröffnet. Wie ein Gewitter zog befreiend, luftreinigend die Straßendemonstration von Stadt zu Stadt, von Petersburg, vom Norden, zum Süden, vom Westen, von Warschau, bis zum äußersten Osten im fernen Sibirien, in Tomsk und Tobolsk. Und wieder entluden sich die neugeweckten revolutionären Kräfte in einem Massenstreik – diesmal im politischen Massenstreik im Süden, in Rostow am Don, im Jahre 1902[2], wo Tag für Tag Volksversammlungen von zehn- und zwanzigtausend Arbeitern unter offenem Himmel, umringt von Soldaten, stattfanden und wo frischgebackene sozialdemokratische Volksredner zündende Reden improvisierten, wo Zehntausende auf die Sozialdemokratie Hochrufe ausbrachten und den Sturz des Absolutismus ankündigten.

Schon drohte die Bewegung zum viertenmal sich in eine Sackgasse zu verrennen. Eine gesunde Massenbewegung hat das nämlich an sich, daß sie, wenn sie nicht zurückgehen soll, unbedingt vorwärtsschreiten, sich entwickeln, sich steigern muß. Und jetzt lebte die russische Arbeiterbewe-

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[1] Auf Initiative des Gendarmerieobersten S. W. Subatow machte die zaristische Regierung von 1901 bis 1903 den Versuch, die Arbeiter vom revolutionären Kampf abzulenken, indem sie legale, von der Polizei kontrollierte Arbeiterorganisationen schuf.

[2] In der Quelle: 1903. – Siehe S. 304, Fußnote 1.