Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 506

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schossen kam, sondern vielmehr historisch aus der sozialdemokratischen Bewegung im ganzen Reiche emporgewachsen ist, daß sie ein normales Stadium, einen natürlichen Knotenpunkt auf der Entwicklungslinie der sozialdemokratischen Agitation bildet, einen Punkt, in dem die Quantität wieder einmal in die Qualität – in eine neue Form des Kampfes – umgeschlagen ist, eine beschleunigte Reproduktion auf höherer Stufenleiter der sozialdemokratischen Massenerhebungen in Petersburg vom Jahre 1896 und in Rostow vom Jahre 1902[1].

Überblickt man nämlich die etwa fünfzehnjährige Geschichte der sozialdemokratischen Praxis im russischen Reich, dann erscheint sie nicht als ein schroffer Zickzackkurs, als welcher sie subjektiv den dort tätigen Sozialdemokraten jeweilen erscheinen mochte, sondern als eine ganz logische Entwicklung, in der sich jedes höhere Stadium aus dem rückständigeren ergab und ohne dieses gar nicht denkbar wäre. Wie bitter die anfängliche Phase der geschlossenen Zirkelpropaganda von den Sozialdemokraten selbst später auch kritisiert wurde, so hat doch zweifellos erst diese unscheinbare Sisyphusarbeit jenen zahlreichen Stock aufgeklärter Individuen unter dem Proletariat herangebildet, die weiterhin zu Trägern und Stützpunkten der Massenagitation auf dem Boden der wirtschaftlichen Interessen wurden. Desgleichen hat erst diese intensive ökonomische Agitation die weiteren Schichten der Arbeiterschaft so weit aufgerüttelt, ihnen die Idee des Klassenkampfes so weit beigebracht, daß die ausgesprochene und scharf akzentuierte politische Agitation einen fruchtbaren Boden fand und so die Reihe der großen Straßendemonstrationen entfesseln konnte. Und alle diese Entwicklungsstufen in ihrer Gesamtheit, in ihrer sich immer steigernden Intensität und dem immer zunehmenden Umfang der Agitation haben erst jene Summe der politischen Aufklärung, jene Aktionsfähigkeit und jene revolutionäre Spannung geschaffen, die zu den Ereignissen des 22. Januar und der folgenden Woche geführt haben. Und zweifellos ist es alleiniges und direktes Werk der Sozialdemokratie, daß sie das Gefühl der politischen Klassenzusammengehörigkeit aller Proletarier im Zarenreich trotz aller nationalen Hetzereien des Absolutismus, so stark entwickelt hat, daß die Petersburger Erhebung zum Signal einer einmütigen allgemeinen Erhebung der Arbeiterschaft im ganzen Reiche wurde: im eigentlichen Rußland wie noch mehr in Polen und Litauen, einer Erhebung zu gemeinsamen Zwecken, mit gemeinsamen Forderungen.

Nicht darauf kommt es natürlich an, um den von der sozialdemokratischen Bewegung in Rußland beschriebenen geschichtlichen Weg als den

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[1] In der Quelle: 1903.