Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 507

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besten, den einzig und wirklich guten zu rechtfertigen. Es ließe sich vielleicht – besonders jetzt, hinterdrein – ein viel kürzerer und besserer Weg ausfindig machen. Da aber die gesellschaftliche Geschichte eine ewige Premiere, eine Vorstellung bleibt, die nur einmal gegeben wird, so kommt es – besonders für die Sozialdemokratie – vor allem darauf an, die tatsächlichen Wege der Arbeiterbewegung, wie sie nun einmal in jedem Lande stattgefunden hat und stattfindet, in ihrer inneren Logik begreifen zu lernen.

Freilich spielen die Kriegsereignisse und der unerträglich gewordene Druck des Absolutismus eine große, eine entscheidende Rolle bei diesen Ereignissen. Allein, daß der Moment des gegenwärtigen Krieges einen solchen Ausbruch herbeiführen konnte, daß der Druck des Absolutismus subjektiv für die große Masse des Industrieproletariats ganz unerträglich geworden – objektiv ist sich dieser Druck stets gleich geblieben –, darin eben äußert sich die von der Sozialdemokratie geleistete Vorarbeit. Der für das offizielle Rußland nicht minder vernichtende Krimkrieg hat seinerzeit nur zu einer Farce „liberaler“ Reformen[1] geführt, und diese Farce war die Liquidation und das Aquivalent derjenigen politischen Macht, die der russische Liberalismus für sich allein aufzubringen vermocht hat. Der russisch-türkische Krieg[2], der an barbarischem Schalten und Walten mit Zehntausenden Proletarier- und Bauernleben dem gegenwärtigen in nichts nachstand und der seinerzeit auch eine starke Gärung in der Gesellschaft hervorgerufen, hat nur das Aufkommen der terroristischen „Narodnaja Wolja“ beschleunigt und in ihrer glänzenden, aber kurzen und sterilen Laufbahn gezeigt, was an politischer Macht die revolutionäre Intelligenz, gestützt auf die demokratischen und liberalen Kreise der „Gesellschaft“, aufzubringen imstande ist. Das Aufkommen der Partei des systematischen politischen Terrors war aber seinerseits schon von vornherein ein Produkt der Enttäuschung über die Organisations- und Aktionsunfähigkeit der russischen Bauernmasse. Damit hatte auch diese Gesellschaftsklasse im Zarenreich ihre historische Indolenz nachgewiesen.

Und erst der jetzige Krieg vermochte eben eine revolutionäre Massenbewegung aus dem Boden zu stampfen, die sofort die ganze Zwingburg des Absolutismus erzittern machte. Weil eben erst der jetzige Krieg im ganzen Reiche eine durch die fast jahrzehntelange Agitation aufgerüttelte

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[1] Siehe Bd. 1/1. S. 60. Fußnote 1.

[2] Der russisch-türkische Krieg 1877/1878 endete mit einer Niederlage der türkischen Armee. Er gab der nationalen Bewegung der Südslawen auf dem Balkan einen Aufschwung und befreite große Telle der Balkanhalbinsel von der türkischen Fremdherrschaft.