Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 93

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rich, London) die Einigung mit anarchistischen Sozialisten rundweg ablehnt.

In dem Maße jedoch, wie der politische Kampf der Arbeiterklasse sich in jedem Lande entwickelte, an Umfang, Tiefe und Mannigfaltigkeit der Formen zunahm, erwuchsen aus ihm neue Probleme. Nicht mehr die Anerkennung des politischen Kampfes im allgemeinen, sondern diese oder jene konkrete Auffassung von diesem Kampfe ist zur Grundfrage der Arbeiterbewegung und zugleich zur Achse geworden, um die sich die sozialistischen Kräfte gruppieren.

Wenn in Deutschland die Vereinigung der Eisenacher mit den Lassalleanern trotz der heftigsten Fraktionskämpfe bald nach ihrer Trennung angestrebt werden konnte, so vor allem deswegen, weil Bebel und Liebknecht bereits damals zu erklären in der Lage waren, daß sie prinzipiell vollkommen auf demselben Boden wie der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ständen. Wären die Lassalleaner, wie heute die Anhänger Jaurèsʼ, zusammen mit Konservativen und Nationalliberalen gegen die Eisenacher vorgegangen, von der Einigung hätte keine Rede sein können.

Ja, es genügte der bloße Schein des „hoffähigen Regierungssozialismus“, es genügte der bloße Verdacht von Beziehungen zur Regierung, um das Werk der Einigung in Deutschland jahrelang zu hintertreiben und aufzuschieben. In Frankreich aber ist der „hoffähige Regierungssozialismus“ bereits in der ganzen heutigen Praxis Fleisch geworden.

Jaurès hat freilich vollkommen recht, wenn er sich darauf beruft, daß die deutsche Sozialdemokratie in ihrem Rahmen für sehr weit auseinandergehende Auffassungen Raum hat, wie dies bei den letzten Auseinandersetzungen über Endziel und Bewegung zum Ausdruck gekommen ist. Er vergißt aber, daß die trennenden Momente bis jetzt lediglich in der Presse, in literarischen Erzeugnissen und nirgends in der Praxis der Partei zum Ausdruck gekommen sind. Eine ernste und große Partei spaltet sich nicht wegen Zeitungsartikeln, auch nicht wegen vereinzelter politischer Seitensprünge. Wenn jedoch der Verrat an sozialistischen Grundsätzen in der Praxis eines Teiles der Partei zum System wird, dann wird jede ernste Partei sich sagen wie Marx vor dreißig Jahren in der Internationale: Lieber ein offener Krieg als ein fauler Friede!

In der Tat, was würde heute eine Einigung aller Sozialisten in Frankreich ergeben? Sehen wir ab von der grundsätzlichen Verschiedenheit der Auffassung, die in der Praxis ein Gebilde schaffen müßte, das nicht leben und nicht sterben könnte. Mit einer noch so abweichenden Richtung ist eine Verständigung mehr oder weniger möglich, wenn sie etwas Bestimm-

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