Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 178

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Atmosphäre berufen. Sie war bereits auf dem besten Wege dazu gewesen. Gegenüber den Skandalen der letzten Jahrzehnte, die in ihrem Schlamme alle Parteien miteinander ertränkten, standen die französischen Sozialisten mit reinem Schilde da. Gegenüber den zersetzenden Wirkungen der parlamentarischen Regimes, an denen auch die letzte „demokratische Partei“, die Radikalen, elend zugrunde gegangen waren, hatten die Guesde, Vaillant, Lafargue dem französischen Volke bewiesen, daß die Politik auch noch zu anderen Zwecken als dem der Nasführung der Massen dienen könne, daß der Parlamentarismus die Ehrlichkeit doch nicht unbedingt auszuschließen braucht. Die Sozialisten hatten zum ersten Male seit dem Bestand der Republik gezeigt, daß man sich im politischen Leben betätigen könne, ohne schon nach wenigen Jahren als völlig abgebrauchte politische Leiche die Luft zu verpesten. Seit dem ministerialistischen Experiment hat sich die Sachlage wesentlich verändert. Es wäre töricht, die ganze Millerand-Affäre als einen großen Bestechungsschwindel, als ein Produkt persönlichen Ehrgeizes und persönlicher Profitsucht zu betrachten. Wenigstens auf seiten der sozialistischen Gefolgschaft Millerands waren zweifellos einfache Irrtümer in der Taktik, die landläufigen opportunistischen Illusionen der Ausgangspunkt auf der schiefen Ebene. Allein es läßt sich für jeden, der die Dinge aus der Nähe kennt, nicht mehr bezweifeln, daß die Ära Millerand einen üppigen Boden für allerlei politische und persönliche Korruption in den Reihen der Sozialisten geschaffen hat.

Wenn man deshalb heute die Äußerungen der bürgerlichen Presse – von der opportunistischen Reaktion bis zur äußersten Linken der Radikalen, von dem „Figaro“ bis zum „Bloc“ des H. Clemenceau – über die sozialistische Partei liest, so findet man Töne einer Verachtung, einer Herablassung darin, wie sie vor wenigen Jahren noch undenkbar waren. Hatte früher die bürgerliche politische Welt in Frankreich für die Sozialisten bei aller Wut und allem Haß doch einen erzwungenen Respekt, so hat dieser nach den Experimenten des Ministerialismus bei den Panamisten dem schadenfrohen Gefühl Platz gemacht: tout comme chez nous! Wenn die seit der großen Revolution binnen einem Jahrhundert von allen Parteien und Führern nach der Reihe dupierte Volksmenge bereits von ihrer einseitigen Verachtung des Parlamentarismus zu genesen begann, so antwortet nunmehr in der Gewerkschaftspresse auf das Werk des „sozialistischen Ministers“ und seiner Parteigänger im Parlament mit erneuter Kraft der alte verhängnisvolle Ruf des französischen Arbeiters: Méfiez vous de politiciens! (Hütet euch vor den Politikern!)

Und als Ergebnis der noch nicht dreijährigen Episode hat nunmehr auch

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