Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 225

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Die Unterscheidung der Parlamentsgruppen nach „Ministeriellen“ und „Antiministeriellen“ ist eine reine Blüte des parlamentarischen Regimes, die schon von vornherein die Frage von der Erhaltung am Ruder eines jeweiligen Ministerkabinetts zur Zentralachse des politischen Lebens des Landes stempelt. Die an sich rationelle Idee, daß die Regierung stets das Werkzeug der Mehrheit der Volksvertretung sein muß, wird von dem bürgerlichen Parlamentarismus in der Praxis in ihr direktes Gegenteil, in die sklavische Abhängigkeit der Volksvertretung von dem Bestand der jeweiligen Regierung, verkehrt. Die dreijährige Geschichte des Kabinetts Waldeck-Rousseau ist eine eklatante Probe dafür, und nie hat sich der Parlamentarismus selbst so ad absurdum geführt wie in jenem Stoßseufzer des ministeriellen Blattes „Lanterne“, das im letzten Dezember aus Anlaß der Abstimmungen über die Chinakredite[1] verzweifelt ausrief, das einzige Mittel, den französischen Parlamentariern ihre politische Handlungsfreiheit und ein unabhängiges Urteil wiederzugeben, sei – die Abschaffung des fatalen Vertrauensvotums, d. h. des Ecksteins des parlamentarischen Regimes!

Die Losung „Hie Ministerielle – hie Antiministerielle“ wird heute mit einer anderen, mehr allgemeinpolitischen Losung identifiziert „Hie Republikaner – hie Nationalisten“. Ganz Frankreich scheint gegenwärtig in zwei große Lager gespalten zu sein, zwischen denen ein Krieg auf Tod und Leben wütet, deren jedes dem anderen die gemeingefährlichsten Absichten in bezug auf die Schicksale Frankreichs unterschiebt. Hört man den alten Rochefort oder den Jules Lemaitre oder Méline, so treiben die Regierungsparteien Frankreich geradewegs dem nationalen Verfall und einer furchtbaren militärischen Niederlage in die Arme. Hört man den Waldeck-Rousseau oder Bourgeois oder Jaurès, so lauern die „Nationalisten“ nur auf den Augenblick, um die Republik zu erdrosseln und die reaktionärste Monarchie wiederherzustellen.

Was für Interessen stellen aber tatsächlich die beiden Kampflager dar? Woher rührt ihre Spaltung? Etwa von Fragen der Republik und der Monarchie? Aber unter denen, die man zu Nationalisten zusammenwirft, befinden sich neben monarchistischen Gruppen auch ausgesprochen republikanische, wie die Gruppe Mélines. Fragen der Armee? Aber hier herrscht zwischen der Regierung und den Nationalisten, den Lasies, den Humbert, den Montebello, die größte Harmonie; sie fanden sich zusammen sowohl in der Beglückwünschung der Chinatruppen wie in der Verschleppung des Gesetzes über die zweijährige Dienstzeit wie in verschiedenen Ehrenbezeu-

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[1] Ende Oktober 1901 war von der französischen Regierung eine Vorlage in der Kammer eingebracht worden, zur Deckung der Kosten für die Teilnahme französischer Truppen an der Niederschlagung der nationalen Befreiungsbewegung in China 1900 eine Anleihe aufzulegen. Diese Vorlage war am 25. November 1901 mit 295 gegen 249 Stimmen gebilligt worden.