Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 226

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gungen an die kompromittierten Generalstäbler. Fragen des Klerikalismus? Aber hier bekam die republikanische Regierung im entscheidenden Moment, bei dem Votum der Entschädigungskredite für katholische Missionen in China, das Vertrauensvotum der enragiertesten Nationalisten. Auswärtige Politik? Aber hier erwarben sich die regierenden Radikalen durch den Empfang des Zaren[1], durch die türkische Expedition[2], durch die Chinaexpedition[3] die Zustimmung aller guten „Patrioten“. Zollpolitik? Aber die „republikanische“ Regierung Waldeck-Rousseau setzt nur die Politik des Hochschutzzöllners Méline ohne die geringste Änderung fort. Sozialpolitik? Aber die Niedermetzelung Streikender[4], die Nasführung der Kohlengräber, die Behandlung der Arbeiter in den Staatsbetrieben (Zündhölzchenfabriken) erinnern vollkommen an die Zeiten Dupuys oder Mélines, und die neuesten Arbeiterschutzgesetze und -vorlagen stehen in ihrer Stümperhaftigkeit den Reformen der opportunistischen Ministerien würdig zur Seite!

Nicht als ob die beiden Lager, die „Republikaner“ und die „Nationalisten“, politisch identisch wären! Umgekehrt, sie sind beide, jedes für sich, ein Konglomerat verschiedenartigster sozialer und politischer Gruppen: von der reaktionärsten Großbourgeoisie bis zu kleinbürgerlich-proletarischen Elementen herab. Was aber den beiden Lagern gemeinsam, was gerade das ausschlaggebende Moment für beide ist, das ist ihre Vereinigung nicht auf dem Boden irgendwelcher realen ökonomischen oder politischen Interessen, nicht auf Grund sozialer Klassen- und Gruppengliederung, sondern auf dem Boden vager, verschwommener Schlagworte, quer durch die soziale Klassengliederung hindurch.

Eine solche Durcheinanderwürfelung der Interessengruppen ist in Frankreich das eigenartige Produkt der Überwucherung einzelner bürgerlicher Gruppeninteressen auf dem fruchtbaren Boden der Dritten Republik, zugleich Ursache und Wirkung der seit ca. 20 Jahren periodisch wiederkehrenden Krisen, wie der Panamaaffäre[5], der Südbahnaffäre[6], des Boulangismus[7]. Die letzte dieser Krisen, die Dreyfus-Affäre[8], hat das Schlagwort vom Nationalismus und der republikanischen Verteidigung auf den Schild

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[1] Im September 1901 hatte der russische Zar Frankreich einen offiziellen Besuch abgestattet und war vom französischen Präsidenten überschwenglich empfangen worden. In breiten Kreisen der Öffentlichkeit hatte dieser Besuch Empörung ausgelöst.

[2] Französische Flotteneinheiten hatten im November 1901 zur Durchsetzung der Forderungen vorübergehend Mytilene besetzt.

[3] 1899 war in Nordchina der Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die vereinigten Armeen von acht imperialistischen Staaten unter Führung des deutschen Generals Alfred Graf von Waldersee grausam niedergeworfen wurde. In einem Abschlußprotokoll von 1901 wurde China u. a. gezwungen, etwa 1,4 Milliarden Mark Kontributionen zu zahlen und der Errichtung von Stützpunkten für die Interventionsarmeen zuzustimmen.

[4] Im Februar 1900 war auf der Insel Martinique Militär gegen Landarbeiter, die wegen Lohnkürzungen streikten, eingesetzt worden. Dabei waren 9 Streikende getötet und 14 verletzt worden.

Im Juni 1900 waren bei einem Streik in Chalon-sur-Saône drei Arbeiter getötet und zahlreiche andere verletzt worden, als Militär gegen die Streikenden eingesetzt wurde. – Am 19. Dezember 1900 hatte die französische Kammer ein Amnestiegesetz angenommen, wonach alle politischen Verurteilungen der letzten Jahre mit einigen Ausnahmen aufgehoben werden sollten. Außerdem sollten alle strafbaren Handlungen, die sich an die Dreyfus-Affäre knüpften, als nicht geschehen erklärt werden.

[5] 1892 war im Zusammenhang mit dem Ruin der französischen Panamagesellschaft von 1888/89 eine parlamentarische Bestechungsaffäre aufgedeckt worden, durch die eine große Anzahl führender Politiker belastet wurde. Tausende von Kleinaktienbesitzern, die zur Finanzierung des Baus des Panamakanals aufgerufen worden waren, wurden um ihre Ersparnisse gebracht.

[6] Im Januar und Oktober 1895 hatte die Aufdeckung einer großangelegten Fälschung der Marseiller Südbahngesellschaft in Frankreich Regierungskrisen ausgelöst. Die Gesellschaft hatte die zwischen ihr und dem Staat vertraglich festgelegten Konzessionen zum Bau von Eisenbahnlinien mißbraucht und riesige Gewinne erzielt.

[7] Der französische General Georges-Ernest Boulanger, ein Feind der Republik, hatte 1889 versucht, eine reaktionäre Militärdiktatur zu errichten. Er floh nach Belgien, nachdem seine Staatsstreichpläne gescheitert waren.

[8] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.