Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 227

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erhoben. Insofern ist die Spaltung ganz Frankreichs nach so verschwommenen Augenblicksschlagworten eine wohlverständliche Erscheinung.

Aber zum erstenmal, und dies ist das besondere Signum der jetzigen Wahlen in Frankreich, hat ein großer Teil der Sozialisten in ihrem politischen Berufe vollkommen versagt. Es ist klar, daß es für die bürgerlichen Klasseninteressen am vorteilhaftesten ist, wenn es der Bourgeoisie gelingt, ihre internen Gruppenstreitigkeiten auch dem Proletariat als Kampfparolen, ihre inneren Spaltungen auch der Arbeiterschaft als Gliederungsachsen zu oktroyieren. Ebenso klar ist es, daß es die vornehmste Aufgabe des Sozialismus ist, stets umgekehrt den bürgerlichen Gruppenspaltungen gegenüber den grundsätzlichen Klassengegensatz, den äußeren politischen Augenblicksparolen die ständigen sozialen Klassenforderungen hervorzukehren.

Darauf war die fünfundzwanzigjährige Arbeit der französischen Sozialdemokraten, der Guesde, Vaillant u. a., gerichtet, und ihr verdankte man die überraschenden Erfolge bei den Wahlen 1898, wo Frankreich ca. 800 000 sozialistische Stimmen an Stelle der ca. 400 000 im Jahre 1893 aufzuweisen hatte.

Diesmal, seit Jaurès und seine ganze Gruppe in der Dreyfus-Affäre im bürgerlichen Lager der „Republikaner“ aufgegangen sind, seit besonders die Ministerschaft Millerands[1] zur republikanischen Sammlung der ministeriellen Sozialisten mit bürgerlichen Parteien aller Schattierungen geführt hat, ist das Werk des Sozialismus zum großen Teil rückgängig gemacht. Nicht nur wurde von den ministeriellen Sozialisten an den bürgerlichen Republikanern gar keine Kritik geübt, sie machten im Gegenteil den ganzen bürgerlichen Schwindel während der Wahlen eifrigst mit. Nicht von ökonomischen oder sozialen Fragen, nicht von Zoll-, Steuer-, Sozialpolitik, nicht von Klassengegensätzen war hier die Rede: „Republikaner“ und „Nationalisten“ – das war die einzige Unterscheidung, auf die die „Sozialisten“ die Arbeiterklasse hinzuweisen wußten. Gemeinsame Kandidaten, gegenseitige Empfehlungen, die brüderlichste Verschmelzung zwischen bürgerlichen Parteien und Sozialisten – das war das Bild der jaurèsistischen Wahlkampagne!

Demgegenüber führte als Klassenvertretung des Proletariats die Sozialistisch-revolutionäre Einigkeit (Guesde-Vaillant) den Wahlkampf gegen die ganze bürgerliche Welt mitsamt dem ministeriellen Sozialismus ganz allein. Und die ca. 350 000 Stimmen, die sie auf ihre Kandidaten gesammelt hat, sind das einzige unzweifelhafte Ergebnis des sozialistischen Bewußtseins in Frankreich. Was sich in den ca. 500 000 Stimmen der ministe-

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[1] Alexandre-Etienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten.