Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 200

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Wirkungen der Internationale in Belgien einst nach Kräften paralysiert hatte, die Rutters, Billen, Wagener, in dem allgemeinen Chaos ihre traurige Rolle spielen, indem sie gegen die Losung des allgemeinen Wahlrechts wühlten und zum Dynamit appellierten. Die erste Feuerprobe des politischen Kampfes im Jahre 1886 genügte aber auch, damit die belgische Arbeiterklasse Ober die anarchistische Konfusion, die jahrzehntelang aus dem dumpfen Elend und der geistigen Degeneration der Massen ihre Lebenssäfte zog, mit einemmal und gründlich zur Tagesordnung überging.

Im zweiten Hauptstück des Kampfes trat nun die junge Arbeiterpartei von vorneherein als Leiterin der Bewegung auf, und diesmal nicht zu ihrer Überraschung, sondern aus ihrer eigenen Initiative erfolgte im Frühjahr 1891 ein erneuter Ansturm auf das Zensusparlament. An Stelle der planlosen Revolte trat der klug vorbereitete und dirigierte Massenstreik. Und wenn zur ersten Demonstration um das allgemeine Wahlrecht auf den Ruf der Arbeiterpartei am 15. August 1886 in Brüssel 30 000 belgische Arbeiter zur Fahne eilten, so erschienen diesmal, im Mai 1891, 125 000 Arbeiter auf dem Platze.

Jetzt waren die Zeiten der rettenden van der Smissen vorbei. Der ruhige Streik, die friedlichen, aber nachdrücklichen Demonstrationen ermöglichten keine Schreckensherrschaft. Den politisch gewachsenen, gereiften, geistig gehobenen Proletariermassen gegenüber waren die Mittel nicht mehr am Platze, die erst vor fünf Jahren gegen die degenerierten, schwankenden, unklaren noch gute Dienste leisteten. Der Klerikalismus mußte weichen, die Revision der Verfassung wurde im August angenommen.

Das war der erste schwer errungene Sieg oder vielmehr der erste Schritt zum Siege. Die Arbeitermassen zogen sich vom Kampfplatze zurück, aber nur um, Gewehr bei Fuß, die Mienen des Parlaments scharf im Auge zu behalten und im Notfalle nachzuhelfen. Das erwies sich auch bald als notwendig. Zwei Jahre lang schaute das Proletariat geduldig der Revisionsfarce der klerikal-liberalen Kammer zu. Schließlich aber, als das Spiel kein Ende nehmen wollte, erfolgte im April 1893 ein erneuter Massenstreik, diesmal von 250 000 Arbeitern geführt, und am 18. April wich in Todesschrecken die kapitalistische Repräsentantenkammer – das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum ward Grundgesetz in Belgien.

Der Brüsseler „Peuple“ (Volk) hatte nach jener denkwürdigen Nachtsitzung des Parlaments, in der die erste Reform des Wahlrechts geboren wurde, ein klassisches Pröbchen des überlegenen historischen Siegeshumors gebracht. Es war dies das Zwiegespräch des Regierungspräsidenten Beernaert mit seiner eigenen Nase, die ihn für die in der epoche-

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