Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 201

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machenden parlamentarischen Nachtsitzung ausgestandenen Qualen zur Rede stellte und ihm die beschämendsten Details der erhabenen Szene unbarmherzig in Erinnerung rief. Es gehörte in der Tat ein neuer Frans Hals oder van Dyck dazu, um die Nachkommen jener ehrwürdigen flämischen Patrizier- und Bürgermeistergestalten mit den steifen weißen Halskrausen und dem heiter-protzigen Selbstbewußtsein im Gesicht zu schildern, diese Nachkommen, wie sie nun in dem dunsterfüllten, von drohenden, murrenden Massen umzingelten Parlament, in Jammergruppen zerstreut, in Schweiß gebadet, mit verzerrten Mienen, unter Stöhnen, Zähneklappern und Leibschmerzen die Absageakte ihrer unumschränkten Klassenherrschaft mit zittrigen Fingern unterschrieben.

Im Oktober 1894 erfolgte die erste Probe aufs Exempel: Die Sozialdemokraten errangen bei den allgemeinen Wahlen 28 Kammersitze und 334 000 Stimmen; damit schloß vorläufig der zweite Akt des Kampfes. Allein, die Losung blieb die alte: das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Die zurückweichende politische Alleinherrschaft der Bourgeoisie hatte sich nämlich bei ihrer Hauptniederlage wenigstens einen Schlupfwinkel noch reserviert: die Pluralwahlen, das doppelte und dreifache Stimmrecht für Familienväter und für akademisch Gebildete. Die Kapitalmagnaten, welche proletarischen Ernährern von sieben Kindern Wochenlöhne von 10 M gewährten, wollten plötzlich den Familienvätern das politische Übergewicht sichern, und die berufsmäßigen Volksverdummer erinnerten sich der geistigen Prärogativen der Bildung. Auf diese Weise wurde das neugeborene Recht im Handumdrehen doch noch in ein Vorrecht der Bourgeoisie und eine Entrechtung der Arbeiterklasse verwandelt, die Herrschaft des Klerikalismus wurde noch in letzter Stunde gerettet.

Und so mußte es mit eiserner Konsequenz zu dem heutigen dritten, zu dem Schlußakt des gewaltigen Kampfes kommen. Mit dem gestrigen Tage begann der Massenstreik[1], in kurzer Zeit wird der dramatische Höhepunkt erreicht und das Werk sechzehnjähriger Mühen und Opfer durch den unausbleiblichen Sieg gekrönt.

Die siebenjährige Zeitspanne seit der letzten Attacke in den 90er Jahren hat mittlerweile in den politischen Zuständen Belgiens noch tiefer greifende Verschiebungen herbeigeführt, als es die Erholungspause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt getan hatte. Die wichtigste dieser Verschiebungen ist: der Zusammenbruch der liberalen Partei.

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[1] Am 14. April 1902 begann in Belgien der Massenstreik, an dem sich über 300 000 Arbeitet beteiligten. Er wurde am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.