Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 202

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Wie es für die bürgerliche Demokratie überhaupt charakteristisch ist, hatte der Zersetzungsprozeß des belgischen Liberalismus bereits in seiner letzten Herrschaftsperiode (1878–1884) begonnen. Damals spaltete er sich in die ausschlaggebende doktrinäre Richtung (etwa unsere Nationalliberalen) und die progressistiscbe oder radikale Minderheit (etwa unser Richter-Freisinn[1]). Sobald die Wahlen des Jahres 1884 den Liberalen eine verdiente Schlappe gebracht hatten, erhoben sie, wenigstens in ihrem radikalen Flügel, die Losung des allgemeinen Wahlrechts. Damit war der Anfang zu der Reihe der Parallelkämpfe und Bündnisse zwischen den Progressisten und der Arbeiterpartei, aber auch zu den systematischen Verrätereien der ersteren an der letzteren gegeben. Bereits bei der ersten Wahlrechtsmanifestation der Arbeiterschaft am 15. August 1886 kniffen ihre wackeren Bundesgenossen im letzten Augenblick aus. Seitdem blieben sie der Taktik treu, die Bewegung so lange zu unterstützen, wie sie in Vorpostengefechten gipfelt, und sie freizugeben im Augenblick der entscheidenden Schlacht.

Es ist aber auch eine verzweifelte Zwickmühle, in der sich die belgische Bourgeoisie seit dem politischen Erwachen des Proletariats befindet. Um gegen ihre herrschende Nebenbuhlerin, die klerikale Partei, aufzutreten, muß sie sich notgedrungen auf die Arbeiterklasse stützen. Wohin aber ein mit dieser „gemeinsamer“ Sieg über die klerikale Mehrheit führt, das bewies der liberalen Partei gleich auf den ersten Schlag die Probe sogar mit dem verunstalteten allgemeinen Wahlrecht. Im Oktober 1894 brachten die Wahlresultate nämlich die für alle Welt verblüffende Tatsache, daß die bis dahin im Parlament mit 59 Sitzen vertretene Partei einfach – verschwunden war! Kein einziger „Doktrinär“ kam in die Kammer hinein, und kaum 15 Radikale blieben auf dem Posten.

Seitdem datiert die immer deutlichere Schwenkung der Liberalen zu den Klerikalen, für die sie notorisch ihre Stimmen abgeben, und die immer heftigeren Schwankungen des progressistischen Häufleins zwischen dem proletarischen und dem heimatlich-bürgerlichen Lager.

Andererseits näherten sich die in ihrem politischen Palladium bedrohten Klerikalen desgleichen den Liberalen an. Der achtzigjährige Frosch-Mäuse-Krieg wurde vergessen, die Zusammenrottung aller bürgerlichen Elemente zu „einer reaktionären Masse“ ward Tatsache. Im Jahre 1899 drückte die klerikale Partei zur Rettung der eigenen Mehrheit und der aussterbenden Spezies der Liberalen ein neues Korrektiv zu dem Pluralwahlrecht: das Proportionalwahlsystem, durch. Von nun an gehörten alle

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[1] Gemeint ist die Freisinnige Volkspartei, deren führender Vertreter Eugen Richter war.