Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 203

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Mandate eines Wahlkreises nicht der zahlreichsten Partei, sondern sie wurden proportionell zwischen den Mehrheiten und den Minderheiten verteilt. Die Arbeiterpartei erhielt zwar trotzdem ihre bereits 1896 und 1898 eroberten 33 Sitze aufrecht, und die klerikale Mehrheit sank auf 85, aber nun hatte sie zu ihrer Seite die für die Kammer wiedergeretteten 21 Doktrinär-Liberalen, die mit antiker Treue ihrer ehemaligen Feindin in jeder reaktionären Niedertracht beistehen.

So bietet heute Belgien im Ergebnis des großen Wahlrechtskampfes das reinste, klassischste Bild der politischen Klassenscheidung unter allen Ländern Europas. Auch trägt sein augenblicklicher Schlußkampf um das unverfälschte, allgemeine, gleiche Wahlrecht in seinem Schoße wichtigere und folgenschwerere Ereignisse als die analogen Kämpfe in anderen Ländern. Der Sieg kann die sozialistische Partei leicht im Verein mit der linksliberalen Gruppe zur parlamentarisch herrschenden, also formell regierungsfähigen, und zwar nicht von Gnaden eines zufälligen schlauen Ministerpräsidenten, sondern kraft historisch gebildeter politischer Verhältnisse regierungsfähigen Partei machen. Der bevorstehende Moment des Wahlrechtskampfes ist also zugleich ein Entscheidungsmoment für die nächste politische Zukunft der belgischen Arbeiterbewegung.

Heute steht sie auf dem Posten als die revolutionärste Macht des morschen kapitalistischen Landes. Was ihr das Morgen bringt – werden wir sehen nach Philippi.

Leipziger Volkszeitung,

I: Nr. 84 vom 14. April 1902,

II: Nr. 85 vom 15. April 1902.

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