Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 198

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teten die Arbeiter der Borinage ein von den Sozialisten Anseele und Defuisseaux verfaßtes Manifest an die Arbeiterschaft von Flandern, in dem sie ihre Brüder zu einem gemeinsamen Kampfe um das allgemeine Wahlrecht in mächtigen Worten aufriefen.

Es zeugt von einer wunderbaren politischen Reife der kaum wenige Monate vorher (am 5. April 1885) von de Paepe, Volders und Anseele gegründeten belgischen Arbeiterpartei, daß sie vom ersten Augenblick im allgemeinen Wahlrecht ihren Schlachtruf erkannt hatte. Die Klagen waren eine Legion, die das Proletariat gegen die bürgerliche Herrschaft führen konnte. Auf allen Gebieten raste das Kapital in seiner unumschränkten Herrschaft und verwüstete das materielle und geistige Leben der Arbeiterklasse. Allein die Erfahrung der 55 Jahre zeigte, daß, solange das Parlament nur zur Balance zwischen der Kutte und dem Bürgerrock, zwischen der Grundrente und dem Kapitalprofit dienen würde, jede Hoffnung auf eine Änderung des Kurses vergeblich war. Verlorene Mühe wäre es gewesen, an dieses Zensusparlament, an diesen kondensierten politischen Fünftelsaft der Kapitalsherrschaft irgendwelche Forderungen des sozialen Fortschritts zu stellen. Die Bude mußte einfach von außen in die Luft gesprengt werden. Die Sprengung der politischen Allmacht der Bourgeoisie, die Erringung des allgemeinen Wahlrechts, wurde somit wie in keinem anderen konstitutionellen Lande Europas zur Lebensfrage für die Arbeiterpartei, zur Zentralachse des sozialistischen Kampfes, zur Sturmfahne, unter die die Arbeiterpartei seit dem Februar 1886 und bis auf heute alle Regungen der Volksmasse mit kluger Berechnung lenkte und sammelte.

Das Jahr 1886 war der erste Akt dieses gewaltigen Kampfes. Freilich suchte die Bourgeoisie den ersten regellosen Ausbruch der Arbeiterbewegung zu fruktifizieren. Eine förmliche Schreckensherrschaft wurde in Belgien von dem traurigen Helden der mexikanischen Expedition, dem General van der Smissen[1], proklamiert. Die Flinte und der Säbel arbeiteten mit Feuereifer. Die bürgerlichen Gerichte verrichteten die gewohnten Marodeurdienste an den Gefallenen des Schlachtfeldes. Die „Rädelsführer“ des Aufruhrs wurden zu lebenslänglicher, zu 20jähriger, 15jähriger, 12jähriger Zwangsarbeit verurteilt.

Aber das Fazit ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen: Die belgische Arbeiterbewegung war im Sturme geboren, und sie trug nun auf ihrer

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[1] Im März und April 1886 war es in den belgischen Provinzen Lüttich und Hennegau zu Arbeiterunruhen und Streiks gekommen. Zu deren Niederschlagung hatte die Regierung Militär eingesetzt und die Leitung dieser Aktion General van der Smissen übertragen.