Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 6

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gesegneten Folgen für den Sozialismus Ausdruck gibt und mit einem Seufzer erklärt, daß die deutsche Sozialdemokratie leider sehr weit hinter den Fortschritten des französischen Sozialismus zurückgeblieben ist, so liegt darin nichts Besonderes. Wir haben nie gezweifelt, daß es auch in unseren Reihen schöne Helenas gibt, die wohl in ähnlichen Verhältnissen bereit wären, wenn nur der Paris auf sie ein gnädiges Auge wirft, sich von ihm entführen zu lassen, und wir können auch sagen, wie seinerzeit der kluge Itzig, als man ihn fragte, ob so ein französisches Panama[1] wohl in seiner Heimat Galizien möglich wäre: „Die Leute – die würden sich schon finden, bloß der Kanal fehlt.“ Der Vollmarsche Artikel sagt uns also in dieser Beziehung nichts Neues. Auch in seiner sachlichen Beweisführung zugunsten Millerands gibt er nur die bekannten, in Frankreich oft von Jaurès und anderen wiederholten Argumente wieder. Im folgenden werden wir Gelegenheit haben, uns mit der Jaurèsschen Auffassung in einigen Artikeln zu befassen, woraus sich unter anderem auch die Beleuchtung der Vollmarschen von selbst ergeben wird. Sein Artikel erfordert erst da eine besondere Entgegnung, wo er außer der Darlegung der eigenen Ansichten Vollmars es unternimmt, die Deutschen über die Tatsachen in Frankreich und die Franzosen über die Meinungen in Deutschland, und zwar in gleichmäßig falscher Weise, zu informieren.

Es handelt sich um zwei Fragen, die bei der Beurteilung des Falles Millerand von kardinaler Bedeutung sind. Erstens um die Frage, ob Millerand mit oder ohne Genehmigung der französischen Sozialisten seinen Ministerposten übernahm, und zweitens um die Feststellung, welches Urteil über den Eintritt Millerands ins Ministerium der Internationale Kongreß im allgemeinen und die deutsche Sozialdemokratie im besonderen durch die Annahme der Kautskyschen Resolution ausgesprochen hat.

Das deutsche Publikum wird nämlich vor allem belehrt, daß Kautsky es aus Mangel an Vorsicht arg hinters Licht geführt habe, als er in seinem Artikel in der „Neuen Zeit“, Nr. 2[2], den Eintritt Millerands in die bürgerliche Regierung als einen eigenmächtigen, ohne Vorwissen der sozialistischen Partei getanen Schritt darstellte. Vollmar, der nicht ein Windbeutel wie Kautsky ist, hat sich in Paris „sehr eingehend über die Sache erkundigt“ und sich „von allerbest unterrichteter Seite“ einen „genauen Bericht“ von dem Hergang des Eintritts Millerands ins Ministerium erstatten lassen, den er nun mit viel Behagen zum besten gibt.

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[1] 1892 war im Zusammenhang mit dem Ruin der französischen Panamagesellschaft von 1888/89 eine parlamentarische Bestechungsaffäre aufgedeckt worden, durch die eine große Anzahl führender Politiker belastet wurde. Tausende von Kleinaktienbesitzern, die zur Finanzierung des Baus des Panamakanals aufgerufen worden waren, wurden um ihre Ersparnisse gebracht.

[2] Karl Kautsky: Die sozialistischen Kongresse und der sozialistische Minister. In: Die Neue Zeit (Stuttgart). 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 36–44.