Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 7

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Demnach steht Millerand vor uns als der brave Knabe da, der sofort nach der Aufforderung Waldeck-Rousseaus eine Sitzung der sozialistischen Kammerfraktion einberufen ließ und sich an die Genossen mit der Bitte um Direktiven wendete, hier aber nicht nur eine allgemeine Zustimmung zum Eintritt in die Regierung fand, sondern ganz besonders von den Guesdisten und Blanquisten, namentlich von Vaillant und Sembat, sozusagen unter Freudentränen für seine Tat gesegnet wurde.

Wäre dem so, wie Vollmar es schildert, dann erfährt zwar nicht die Bewertung der Teilnahme von Sozialisten an bürgerlichen Regierungen im allgemeinen, wohl aber die bisherige Bewertung der Handlungsweise Millerands wie andererseits der inneren Parteikämpfe der französischen Sozialisten eine völlige Verschiebung. Erscheint dabei Millerand als der legitime Vertreter der sozialistischen Partei, die auch die Verantwortlichkeit für ihn trägt, so wird dafür die schroffe Opposition der französischen Arbeiterpartei und der Fraktion Vaillant ganz unverständlich, und sie erscheinen wirklich als jene Störenfriede der sozialistischen Einigkeit, als die sie Vollmar so angestrengt darstellen möchte.

Nun, die internationale Sozialdemokratie braucht zum Glücke nicht alles, was bis jetzt über den Fall Millerand gesagt und geschrieben worden ist, auf den Kopf zu stellen, denn Vollmar ist – das passiert offenbar auch den vorsichtigsten Männern – nur zum Opfer eines französischen Spaßvogels geworden, indem ihm seine „allerbest unterrichtete Seite“ einen sicher sehr gutgemeinten Bären aufgebunden hat. Der folgende Brief Vaillants vom 4. Dezember v. J., zu dessen öffentlichem Gebrauch er uns ermächtigt, stellt den Sachverhalt in unzweideutiger Weise fest. Vaillant schreibt:

„Ich habe mehrmals Gelegenheit gehabt, die Tatsachen öffentlich darzulegen. Zwei Tage vor der Bildung des Ministeriums, in einer Sitzung der sozialistischen Kammerfraktion, erzählte Millerand als eine ‚Geschichte, die nunmehr bloß der Vergangenheit angehöre‘, daß nach dem Falle des Kabinetts Dupuy man ihm vorgeschlagen habe, in eine ministerielle Kombination einzutreten, und daß er sich an diesen Verhandlungen lediglich unter seiner persönlichen Verantwortlichkeit beteiligt habe, die Partei gänzlich aus dem Spiele lassend. Ich erklärte sofort, daß ich von den Äußerungen Millerands Akt nehme und daß, wenn ähnliche Verhandlungen sich ausnahmsweise wiederholen und erfolgreich werden sollten, ich die Kammerfraktion wie die Partei zu einer Erklärung auffordern würde, um die Partei gänzlich von einem solchen individuellen Akte loszulösen, da die Partei an der Zentralgewalt der Bourgeoisie, am Ministerium, in

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