Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 266

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bürgerlichen Politiker, wie für den Zentrumsmann, den Freisinnigen, den Nationalliberalen. In dem Falle der Budgetabstimmung galt es also noch, die agitatorischen Gesichtspunkte der sozialistischen Politik den bürgerlichen Gesichtspunkten des Opportunismus entgegenzuhalten.

In der bayerischen Wahlrechtsfrage[1] liegen die Dinge bereits viel einfacher. Hier kommt nicht mehr eine „Zeremonie“, ein „Ritus“, eine Handlung von vorwiegend moralischem Wert in Frage. Nein, hier handelt es sich lediglich um so handgreifliche, faustdicke praktische Dinge wie die Wahlberechtigung großer Massen, wie den Zensus, die Altersgrenze, die Einteilung der Wahlkreise. Ja noch mehr! Der Gegenstand, der im gegebenen Fall auf dem Spiele steht, bildet geradezu das Palladium des Opportunismus, der „praktischen Politik“. Es handelt sich ja um dieselben parlamentarischen Rechte, um dieselbe Demokratie, die nach dem revidierten sozialistischen Evangelium den Hebel des Archimedes bilden, womit die kapitalistische Welt aus den Angeln gehoben und in den Abgrund geschleudert werden soll! Und was sehen wir da? Die „praktischen Politiker“ verirren sich auf dem Glatteis ihrer „Praxis“ so weit, daß sie schließlich die parlamentarischen Rechte, die Demokratie selbst preisgeben und einem Zensuswahlrecht, einer Hinaufschiebung der Altersgrenze der Wahlberechtigung, mit einem Worte, einer Wahlrechtsverschlechterung zustimmen! Wie über die badische Budgetpolitik, so ist der bayerische Fall auf diese Weise auch über das belgische Experiment ein weiterer Schritt hinaus: In Belgien haben wir dank dem parlamentarischen Paktieren mit der Bourgeoisie das Wahlunrecht beibehalten, in Bayern sollen wir auf demselben Wege gar dazu gelangen, das Wahlunrecht selbst zu schaffen.

Mit frappanter Übereinstimmung denken die sozialistischen Staatsmänner aller Länder, daß ihre Niederlagen erst in dem Augenblick Tatsache werden, wo man über sie zu reden anfängt. Das oberste Prinzip der „praktischen Politik“ ist deshalb unter allen Längen- und Breitengraden: sich wütend gegen jede öffentliche Diskussion zu wehren. Jaurès in der „Petite République“, Vandervelde in der „Neuen Zeit“, die bayerische Fraktion in der „Münchener Post“ entrüsten sich gleichermaßen über das freche Ansinnen, ihre „praktischen Erfolge“ ans Tageslicht zu bringen. Sachlich stehen die Einwände, die sie zu ihrer Rechtfertigung vorzubringen wissen, in allen diesen Fällen auf gleicher Höhe.

Parvus, dem das Verdienst gebührt, zuerst in die Machenschaften der

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[1] In Bayern hatte die sozialdemokratische Landtagsfraktion einem Wahlrechtsvorschlag zugestimmt, dem zufolge das Wahlrechtsalter heraufgesetzt, ein Wahlzensus eingeführt und durch die Einteilung der Wahlkreise das Industrieproletariat benachteiligt werden sollte.