Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 516

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wirtschaftlichen Maschinen und erschwertem Absatz im Auslande bedacht hat, der zugleich durch die stupide Wirtschaft der Bürokratie auf Schritt und Tritt gehemmt und gereizt wird. Andrerseits tritt hier die Opposition der städtischen bürgerlichen Intelligenz hinzu, die durch die asiatische Niederknüttelung der freien wissenschaftlichen Forschung, der Presse, des ganzen geistigen Lebens empört ist und auch durch die furchtbare materielle Verelendung der breiten Volksschichten gegen das herrschende Regime äußerst erbittert ist. Schließlich treten auch noch verschiedene Teil- und Sonderinteressen der bürgerlichen Schichten und Gruppen hinzu: die städtischen und ländlichen Selbstverwaltungskörper, die in ihrer Bewegungsfreiheit durch das plumpe Dreinschlagen der herrschenden Kamarilla vollkommen lahmgelegt werden. Aus allen diesen Elementen kam in der jüngsten Periode eine liberale Gärung zustande, in die sich seit dem Kriege zweifellos auch ein ganz ernst gekränkter „Patriotismus“ mischte und die nach außen sogar eine Zeitlang ziemlich imposant wirken konnte.

Allein, wie wenig diese liberale Gärung an sich von einem ernsten, kräftigen Klasseninteresse irgendeiner bürgerlichen Klasse getragen, wie wenig sie an sich dem Absolutismus gefährlich war, zeigt die Behandlung, die ihr von diesem letzteren zuteil wurde. Nach einer kurzen „liberalen“ Spielerei der Periode Swiatopolk-Mirski[1] tat der Despotismus den ganzen liberalen „Frühling“ mit einer kurzen Randglosse ab, die Nikolaus II. auf eine konstitutionelle Bittschrift der Semstwos mit Bleistift kritzelte, indem er sie als „taktlos und frech“ bezeichnete. Damit basta! Die liberalen Bankette, Reden und Beschlüsse wurden einfach untersagt, und der adelig-intellektuelle Liberalismus war ganz aus der Fassung gebracht, stand ganz perplex und ratlos da. Es bleibt Tatsache und muß mit allem Nachdruck hervorgehoben werden, daß einen Augenblick, bevor die proletarische Erhebung in Petersburg ausbrach, die liberale Gärung in einen Stillstand geraten war und sich sichtlich durch das kräftige Auftrumpfen des Absolutismus ganz gelähmt fühlte. Wäre die Arbeiterklasse nicht unerwartet auf dem Plane erschienen, der Liberalismus hätte zum soundsovielten Male wieder die Segel gestrichen, und die ganze oppositionelle Periode hätte mit einem spielenden Triumph des Absolutismus geendet. Mit einem Male änderte sich dann die ganze Szenerie. Der Zarismus, der eben erst mit Selbstüberhebung die ganze Kampagne des Liberalismus en canaille

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[1] Von August 1904 bis Januar 1905 war P. D. Swiatopolk-Mirski Innenminister Rußlands und betrieb zur Abschwächung der heranwachsenden revolutionären Krise eine Politik des Lavierens. Er machte der liberalen Opposition einige Zugeständnisse: unbedeutende Milderung der Zensur, teilweise Amnestie und Genehmigung zur Durchführung von Semstwokongressen.