Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 517

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traktieren und wie einen Dummejungenstreich als „frech“ abkanzeln konnte, wurde beim ersten Auftreten der proletarischen Masse erdfahl vor Schreck und wußte, als die Arbeiter sich erst kaum zum „Bitten“ anschickten, daß es sich nunmehr für ihn um Sein oder Nichtsein handelte. Und er spielte sofort beim ersten Zug auch schon den letzten Trumpf aus: den Massenmord, die offene Schlacht gegen das Proletariat. Damit hat sich die freiheitliche Bewegung mit einem Schlag in eine direkte Auseinandersetzung zwischen dem Absolutismus und der Arbeiterklasse verwandelt, wobei der bürgerlich-adelig-intellektuelle Liberalismus auf den zweiten Platz zurückgedrängt wurde.

Noch mehr ist dies der Fall in den nichtrussischen Provinzen des Zarenreiches, namentlich in Polen. Hier ist der Nationalismus als eine starke oppositionelle Bewegung des Adels schon seit dem letzten Aufstand im Jahte 1863 selig entschlafen. Die seit den 60er Jahren in Kongreßpolen[1] mächtig emporgekommene kapitalistische Produktionsweise hat nicht nur den Adel in seinen separatistischen Bestrebungen gebrochen, sondern eine moderne Bourgeoisie an die Spitze der Gesellschaft gestellt, die im Interesse der kapitalistischen Profitmacherei zur treuesten und eifrigsten Stütze des russischen Zarismus wurde. Immerhin spukten noch die nationalen Überlieferungen, wenn auch völlig jeder aktiven lebendigen Macht entkleidet und in ganz verschwommener Gestalt, in den Sphären des Kleinbürgertums und der städtischen Intelligenz. Die jüngste revolutionäre Periode im Zarenreich wurde zur Feuerprobe auch für diese Überreste einer nationalen Opposition. Es stellte sich heraus, daß nicht einmal ein Schimmer von einer politischen lebendigen Regung in diesen Überlieferungen geblieben war. Es liegt auf der Hand, daß, wenn irgendein Augenblick für das Hervortreten einer nationalen Bewegung geeignet, ja wie geschaffen war, es eben die Periode der inneren liberalen Gärung im eigentlichen Rußland sein mußte. Jetzt galt es mitzureden, mitzuprotestieren, die allgemeine Erregung für die nationalen Bestrebungen auszunutzen. Nichts von alledem ist eingetreten. In der Periode der offenen liberalen Proteste, Bankette und Beschlüsse war gerade Polen die einzige Provinz des Zarenreichs, in der die Bourgeoisie, der Adel und die Intelligenz sich gleichmäßig passiv verhielten, wo keine laute Stimme, sei es nur liberaler Bestrebungen, aus irgendeiner bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Schicht hervortönte.

Und erst mit der allgemeinen Erhebung der polnischen Arbeiterklasse, einer rein proletarischen Erhebung der Solidarität mit dem Petersburger Proletariat, ist auch Kongreßpolen in den allgemeinen revolutionären

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[1] Siehe Bd. 1/1, S. 6, Fußnote 1.