Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 448

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/448

Brust gesetzt werden, mit einem stillen Seufzer im voraus sagt: Da die Volksvertretung das (die dreijährige Dienstzeit) nicht wünschen könne, dürfe man die Heeresvorlage „wohl schon beute als genebmigt ansehen“. Und diese heldenhafte Prophezeiung des Liberalismus wird natürlich ebenso glänzend stimmen wie jede Rechnung, die die schmachvolle Selbstentäußerung der bürgerlichen Reichstagsmehrheit zu ihrem Ausgangspunkt nimmt.

Wir haben da vor uns in den Schicksalen des deutschen Reichstages ein wichtiges Stück der Geschichte des bürgerlichen Parlamentarismus überhaupt, über deren Tendenzen und innere Zusammenhänge sich vollkommen klarzuwerden durchaus im Interesse der Arbeiterklasse liegt.

Es ist eine historisch nicht bloß erklärliche, sondern notwendige Illusion des um die Herrschaft kämpfenden und noch mehr des zur Herrschaft gelangten Bürgertums, daß sein Parlament die Zentralachse des sozialen Lebens, die treibende Macht der Weltgeschichte sei. Eine Auffassung, deren natürliche Blüte jener famose „parlamentarische Kretinismus“ ist, der über dem selbstgefälligen Redegeplätscher von ein paar hundert Abgeordneten in einer bürgerlichen Gesetzgebungskammer die weltgeschichtlichen Riesenkräfte übersieht, die draußen im Schoße der gesellschaftlichen Entwicklung, ganz unbekümmert um die parlamentarische Gesetzmacherei, wirksam sind. Es ist aber gerade dieses Spiel der blinden Elementarkräfte der sozialen Entwicklung, an der die bürgerlichen Klassen selbst mittun, ohne es zu wissen und zu wollen, das zur unaufhaltsamen Unterwühlung nicht bloß der eingebildeten, sondern jeglicher Bedeutung des bürgerlichen Parlamentarismus führt.

Es ist nämlich – wie dies an den Schicksalen des deutschen Reichstages schlagender wie in irgendeinem anderen Lande geprüft werden kann – die doppelte Einwirkung der internationalen wie der innerpolitischen Entwicklung, die den Verfall der bürgerlichen Parlamente herbeiführt. Einerseits reißt die in den letzten zehn Jahren mächtig emporgekommene Weltpolitik das ganze wirtschaftliche und soziale Leben der kapitalistischen Länder in einen Strudel unübersehbarer, unkontrollierbarer internationaler Wirkungen, Konflikte, Umgestaltungen, in dem die bürgerlichen Parlamente wie ein Balken auf stürmischem Meere ohnmächtig hin- und hergezerrt werden.

Andrerseits wird die Gefügigkeit und Ohnmacht des bürgerlichen Parlaments gegenüber diesem vernichtenden Anprall der weltpolitischen Brandung, gegenüber dem Militarismus, Marinismus, der Kolonialpolitik durch die innere Klassen- und Parteientwicklung der kapitalistischen Gesellschaft vorbereitet und zur Reife gebracht.

Nächste Seite »