Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 449

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Der Parlamentarismus ist – weit entfernt, ein absolutes Produkt der demokratischen Entwicklung, des Fortschritts im Menschengeschlechte und dergleichen schöner Dinge zu sein – vielmehr die bestimmte historische Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie und – dies nur die andere Seite dieser Herrschaft – ihres Kampfes mit dem Feudalismus. Der bürgerliche Parlamentarismus bleibt nur lebendig, solange der Konflikt zwischen der Bourgeoisie und dem Feudalismus währt. Erlischt das belebende Feuer dieses Kampfes, so verliert der Parlamentarismus vom bürgerlichen Standpunkt den historischen Zweck. Seit einem Vierteljahrhundert ist aber der allgemeine Zug der politischen Entwicklung in den kapitalistischen Ländern ein Kompromiß zwischen Bourgeoisie und Feudalismus. Die Verwischung des Unterschiedes zwischen den Whigs und den Tories in England, zwischen den Republikanern und dem klerikal-monarchistischen Adel in Frankreich sind Produkte und Äußerungen dieses Kompromisses. In Deutschland stand der Kompromiß bereits an der Wiege der bürgerlichen Klassenemanzipation, erstickte schon ihren Ausgangspunkt – die Märzrevolution – und gab dem deutschen Parlamentarismus im voraus die verkrüppelte Gestalt einer ständig zwischen Tod und Leben schwebenden Mißgeburt. Der. preußische Verfassungskonflikt[1] war das letzte Aufflackern des Klassenkampfes des deutschen Bürgertums wider die feudale Monarchie. Seitdem wird die Grundlage des Parlamentarismus: die politische Übereinstimmung der Volksvertretung mit der Regierungsgewalt, nicht in der Weise reguliert – wie in England, Italien, den Vereinigten Staaten –, daß die Regierung der jeweiligen Parlamentsmehrheit entnommen wird, sondern durch einen umgekehrten, der preußisch-deutschen Spezialmisere entsprechenden Modus: indem nämlich jede bürgerliche Partei, die im Reichstag zur Macht gelangt, eo ipso zur Regierungspartei, d. h. zum Werkzeug der feudalen Reaktion wird. Siehe die Schicksale der Nationalliberalen und des Zentrums.

Der so perfekt gewordene feudal-bürgerliche Kompromiß, der den Parlamentarismus selbst vom historischen Standpunkt zu einem Rudiment, zu einem funktionsberaubten Organ gemacht, hat auch all die heute auffallenden Merkmale des parlamentarischen Verfalls mit zwingender Logik produziert. Solange der Klassenkonflikt zwischen Bürgertum und Feudal-

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[1] 1862 war Otto Fürst von Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt worden mit dem Auftrag, die Heeresreform gegen den Widerstand der Bourgeoisie im preußischen Abgeordnetenhaus, die die Mittel dazu verweigert hatte, durchzusetzen. Mit dem Ausschalten des Parlaments löste er in Preußen eine politische Krise aus, die günstige Voraussetzungen für eine revolutionär-demokratische Einigung Deutschlands schuf. Die Bourgeoisie ließ aus Furcht vor dem Proletariat diese Möglichkeit ungenutzt.