Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 450

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monarchie dauert, ist der offene Parteikampf im Parlament sein natürlicher Ausdruck. Auf dem Boden des perfekt gewordenen Kompromisses dagegen sind bürgerliche Parteikämpfe im Parlament unnütz. Die Interessenkonflikte zwischen den verschiedenen Gruppen der herrschenden bürgerlich-feudalen Reaktion werden nicht mehr durch Kraftproben im Parlament, sondern in der Form des Kuhhandels hinter den Kulissen des Parlaments ausgetragen. Was an bürgerlichen offenen Parlamentskämpfen noch übriggeblieben ist, sind nicht mehr Klassen- und Parteikonflikte, sondern höchstens in zurückgebliebenen Ländern, wie Österreich, Nationalitäten-, d. h. Cliquenhader, dessen adäquate parlamentarische Form die Raufszene, der Skandal ist.

Mit dem Absterben der bürgerlichen Parteikämpfe schwinden auch ihre natürlichen Organe: die markanten parlamentarischen Persönlichkeiten, die großen Redner und die großen Reden. Die Redeschlacht als parlamentarisches Mittel hat überhaupt nur für eine Kampfpartei Zweck, die im Volke einen Rückhalt sucht. Das Reden im Parlament ist dem Wesen nach immer ein Reden „durch das Fenster“. Vom Standpunkte des Kuhhandels in der Kulisse, als des normalen Austragsmittels der Interessenkonflikte auf dem Boden des bürgerlich-feudalen Kompromisses, sind Redeschlachten zwecklos, ja zweckwidrig. Daher der Unwille der bürgerlichen Parteien über das „viele Reden“ im Reichstag, daher das lähmende, matte Gefühl der eigenen Zwecklosigkeit, das über den Redekampagnen der bürgerlichen Parteien wie eine bleierne Decke lastet und den Reichstag in ein Haus der tödlichsten Geistesöde verwandelt.

Und schließlich hat der bürgerlich-feudale Kompromiß den Eckstein des Parlamentarismus – das allgemeine Wahlrecht selbst – in Frage gestellt. Auch dieses hatte vom bürgerlichen Standpunkt historischen Sinn nur als Waffe im Kampfe zwischen den zwei großen Fraktionen der besitzenden Klassen. Es war nötig für die Bourgeoisie, um „das Volk“ gegen den Feudalismus ins Feld zu führen. Es war nötig für den Feudalismus, um das flache Land gegen die Industriestadt mobilzumachen. Nachdem der Konflikt selbst in ein Kompromiß ausgelaufen und aus den beiden Polen[1], aus Stadt und Land, statt liberaler und agrarischer Truppen etwas Drittes – die Sozialdemokratie – hervorgegangen ist, wurde das allgemeine Wahlrecht vom Standpunkte der bürgerlich-feudalen Herrschaftsinteressen zu einem Nonsens.

So hat der bürgerliche Parlamentarismus den Zyklus seiner geschichtlichen Entwicklung durchlaufen und ist bei der Selbstnegation angelangt.

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[1] In der Quelle: Proben.