Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 310

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auf das städtische Proletariat, sondern auf die Eigentümerin – die Bauerngemeinde, strebte sie nicht die Realisierung der Ergebnisse des Kapitalismus an, sondern Verhütung dieser Ergebnisse. Sie suchte ihre Waffe nicht im Klassenkampf, sondern in dem Streben einer entschlossenen Minderheit, an das Ruder des Staates zu gelangen. Wenn wir noch den subjektiven Idealismus als Grundlage der historischen Anschauungen des „Volkstümlertums“ hinzufügen, so erhalten wir im Resultat eine Theorie, die sich in allen ihren Teilen von den allgemeinen Prinzipien des „Proletariat“ unterscheidet.

Zwar war auch die „Narodnaja Wolja“ kein völlig einheitliches Gebilde; Keime der Marxschen Theorie und Einflüsse des Westens lassen sich auch hier in manchem Punkt wahrnehmen. Auch das politische Programm der „Narodnaja Wolja“ ist nicht leicht zu bestimmen. Deshalb kann man sich erst auf Grund einer ernsthaften Überlegung und Analyse der periodischen Literatur dieser Partei zu einer kategorischen Antwort entschließen auf die Frage: Wie ist die politische Aktion der „Narodnaja Wolja“ eigentlich zu verstehen? Beabsichtigte sie, den Sturz der Selbstherrschaft zu erreichen und den Semski Sobor[1] einzuberufen, um sofort Übergangsmaßnahmen in sozialistischem Geiste zu ergreifen, um vor allem die Gemeindeherrschaft als künftige Grundlage der sozialistischen Ordnung zu festigen, oder aber strebte sie vielleicht danach, vor allem die gewöhnlichen konstitutionellen Freiheiten zu erzwingen? Wie wir weiter unten sehen werden, ließen sich auch seinerzeit Stimmen vernehmen, die die „Narodnaja Wolja“ in diesem letzteren Sinne verstanden wissen wollten. Doch die politische Taktik der „Narodnaja Wolja“ läßt sich zweifellos am besten bestimmen, suchen wir das entsprechende Etikett in der Geschichte des westeuropäischen Sozialismus in dem Begriff des Blanquismus, das heißt einer Taktik, die einerseits darauf gerichtet ist, das Vertrauen der Volksmassen zu gewinnen, und andererseits, die Macht durch eine Partei von Verschwörern an sich zu reißen, um, auf die Massen gestützt, vom sozialistischen Programm „soviel wie möglich“ durchzuführen. An eine solche Einschätzung hält sich die russische Sozialdemokratie, die in ihrer programmatischen Literatur die historische Weltanschauung sowie auch die ökonomischen Theorien des „Volkstümlertums“ und die politischen Methoden der „Narodnaja Wolja“ einer ausführlichen und erschöpfenden Kritik unterzogen hat.

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[1] Im Jahre 1549 war erstmals der Semski Sobor, eine russische Ständeversammlung, in der die Feudalherren eindeutiges Übergewicht besaßen, zusammengetreten. Diese bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts bestehende Institution wurde in besonders wichtigen Fallen vom Zaren zu Rate gezogen.