Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 72

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lution des Pariser Internationalen Kongresses die sozialistische Ministerschaft als normales Kampfmittel der Arbeiterbewegung, als „neue Methode“ erklärt, hat er die Tätigkeit seiner Gruppe auf einen Boden gestellt, auf dem die Vereinigung mit den anderen sozialistischen Gruppen außerordentlich schwer ist. Heute ist es also gerade Jaurès, der unermüdliche Träger der Einigkeitsidee, der durch das Festhalten an einer Taktik, die zu bekämpfen nicht bloß das Recht, sondern die Pflicht seiner sozialistischen Widersacher ist, sein eigenes Werk untergräbt und zum Faktor der Uneinigkeit wird.

Die Sachlage hat sich also seit dem Internationalen Kongreß um ganze 180 Grad verschoben, und dieser Umstand macht eine gründliche Revision der Ansichten der sozialistischen Welt in bezug auf die französischen Parteiverhältnisse notwendig.

Dies besonders für uns in Deutschland. Wir haben meines Erachtens durchaus keinen Grund, eine Partei im Ausland zu bekämpfen, die in allen wesentlichen Zügen auf dem gleichen Boden mit uns steht, und eine Richtung im Ausland zu verherrlichen, deren schwache Ansätze bei uns zu Hause die Partei in allen praktischen Fällen bekämpft.

In der Taktik Jaurèsʼ finden wir in der Tat alle Grundzüge des sozialistischen Opportunismus wieder, wie wir sie auch in Deutschland kennengelernt haben. Die Theorie von dem Wiederaufleben des kleinbürgerlichen Radikalismus in Frankreich ist nur das politische Gegenstück zu der Theorie von der Unerschütterlichkeit des Kleingewerbes. Die Reduzierung der sozialistischen Politik auf die mit dem bürgerlichen Republikanismus gemeinsame Aktion – das ist die praktische Überwindung der „Freßlegende“. Die Beseitigung jeder Kritik an der „republikanischen“ Regierung in der Erwartung ihres segensreichen Wirkens – das ist die Verwirklichung des Prinzips: „Dem guten Willen die offene Hand.“ Die prinzipienlose Politik in den Tag hinein, gerichtet einzig nach den parlamentarischen Augenblickskombinationen – das ist die fleischgewordene Politik „von Fall zu Fall“. Und ein sozialistischer Minister, der Brotwucher treibt – das ist der höchste Triumph der „praktischen Politik“ über die graue „Theorie“.

Es erscheint deshalb erklärlich, wenn der Ministerschaft Millerands und der sich daran knüpfenden Taktik in Frankreich die lebhaftesten Sympathien der Anhänger des Opportunismus bei uns wie anderwärts zuteil geworden sind. Derselbe Umstand ist es aber auch, der die enorme internationale und geschichtliche Bedeutung des Falles Millerand für die sozialistische Bewegung ausmacht.

Wir erleben gegenwärtig in Frankreich ein eklatantes Experiment der

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