Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 71

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Dreyfus-Kampagne die Ehre des französischen Sozialismus gerettet hat, so muß heute gesagt werden, daß Guesde und Vaillant durch ihren unbeugsamen Widerstand gegen die sozialistische Ministerschaft nicht bloß die Ehre des Sozialismus, sondern noch ein übriges, nämlich den Sozialismus selbst retten.

Seit dem letzten Internationalen Kongreß in Paris haben sich die Verhältnisse des französischen Sozialismus gänzlich verschoben, ohne daß man es im Ausland gewahr wurde und die Tragweite des Umschwungs gewürdigt hätte.

Zur Zeit des Kongresses rührten die lebhaften internationalen Sympathien für die Fraktion Jaurès von zwei Momenten her: von ihrer mutigen Dreyfus-Kampagne und von ihrer kräftigen Aktion für die sozialistische Einigkeit.[1]

Seither ist das Zusammengehen der Sozialisten mit den bürgerlichen Elementen in der Dreyfus-Krise dank dem Dazwischentreten der Ministerschaft Millerands in die Taktik des Kadavergehorsams gegenüber der Regierung und der radikalen Partei ausgeartet. Damit haben Jaurès und seine Anhänger die führende Rolle im politischen Kampfe der Arbeiterklasse, die sie während der Dreyfus-Affäre für eine Zeitlang erobert hatten, wieder an die alten Parteiorganisationen verloren, die heute wie seit jeher in der Politik des Landes der vorwärtstreibende Teil sind.

Desgleichen ist die Ministerschaft Millerands infolge des Frontwechsels, der sich in der Haltung des Jaurèsschen Flügels ihr gegenüber vollzogen hat, für die Frage der sozialistischen Einigkeit verhängnisvoll geworden. Wenn der Fall Millerand als ein Ausnahmefall während der Dauer der Dreyfus-Krise noch eine schwache Rechtfertigung finden konnte, wo die Republik nicht nur den Beteiligten in Frankreich, sondern auch den Beobachtern im Ausland in den letzten Zügen zu liegen schien, so ist nach dem Fiasko der Verteidigungsaktion des Kabinetts jede Entschuldigung für den Schritt Millerands verschwunden. Indem Jaurès aber aufgehört hat, die Beteiligung des Sozialismus an der Regierung als eine außerordentliche Maßregel zu betrachten, und in seinen Reden in Lille und in Bourges im direkten Gegensatz zu der auch von ihm akzeptierten Resolution des ersten französischen Einigungskongresses (1899)[2] wie zu der Kautskyschen Reso-

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[1] Jean Jaurès und seine Anhänger hatten im Unterschied zu anderen sozialistischen Gruppen in Frankreich während der Dreyfus-Affäre einen konsequenten Kampf gegen den Militarismus geführt und traten für die Einigung der einzelnen Gruppen ein. (Siehe dazu Rosa Luxemburg: Zu dem französischen Einigungskongreß. In: GW, Bd. 1/1, S. 619–622; dies.: Rezension. In: ebenda, S. 629–631.)

[2] Am 3. Dezember 1899 begann im Pariser Gymnasium Japy ein allgemeiner Kongreß aller sozialistischen Gruppen Frankreichs, der über die Beteiligung sozialdemokratischer Minister an bürgerlichen Regierungen beriet. Der Kongreß verurteilte den Ministerialismus, ließ aber gegen die Stimmen der Guesdisten Ausnahmeregelungen zu. Die einzelnen Gruppen einigten sich über bestimmte Maßnahmen, die zukünftige gemeinsame Aktionen ermöglichen sollten.