Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 70

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Freilich führt die Gruppe Jaurès auch sozialistische Propaganda, und sie glaubt fest, durch ihre „neue Methode“ gerade dem Sozialismus ungeheure Dienste leisten zu können. Und Jaurès selbst hat sich sogar in einem Vortrag, gehalten in Paris am 10. Februar 1900, mit allen wesentlichen Punkten der Theorie mit den Ansichten des wissenschaftlichen Sozialismus einverstanden erklärt. Aber eine Partei ist nicht das, was sie von sich sagt und glaubt, sondern was sie tut. Das entscheidende Moment der Tätigkeit, die politische Taktik des Jaurèsschen Flügels führt trotz seiner aufrichtigsten sozialistischen Überzeugung und der größten Hingebung an die Sache des Proletariats geradenwegs dahin, die Arbeiterklasse wieder in dem republikanischen Lager der Bourgeoisie aufzulösen, das heißt, das ganze vom Sozialismus seit einem Vierteljahrhundert vollbrachte Werk wieder zunichte zu machen.

Es sind gerade die Befürchtungen vor diesem Rückfall in die Rolle des Anhängsels der bürgerlichen Parteien, die die alten sozialistischen Organisationen dazu geführt haben, in der Wahrung der souveränen Interessen des Sozialismus auf Kosten der tagespolitischen Interessen manchmal zu weit zu gehen und in den Krisen der Republik die Abstention der Arbeiterklasse als Losung auszugeben. So bleibt es auch zweifellos eine unendlich zu bedauernde Tatsache, daß sich die Französische Arbeiterpartei und die Sozialistisch-revolutionäre Partei in der Dreyfus-Krise beiseite hielten, statt sich umgekehrt an die Spitze der Bewegung zu stellen und damit ihre Richtung zu bestimmen.

Aber es ist total falsch, wenn man diese Haltung aus der Gleichgültigkeit für die politischen Formen erklärt. Bereits 1889 in ihrem Manifest aus Anlaß der Boulanger-Krise[1] haben die Guesdisten und die Blanquisten klipp und klar ausgesprochen: „Die Republik ist die zur Emanzipation des Proletariats notwendige politische Form. Sie muß um jeden Preis aufrechterhalten werden.“

Auch heute unterstützen die beiden Parteien im Parlament das Ministerium „der republikanischen Verteidigung“ als geringeres Übel, trotz all seiner Erbärmlichkeit.

Worum es sich handelt, ist nicht die Frage, ob Verteidigung der Republik oder nicht, sondern die Frage, ob die Arbeiterklasse eine selbständige politische Partei im Gegensatz zu allen bürgerlichen Klassen oder ob sie nur ein passiver Bestandteil der republikanischen Fraktion der Bourgeoisie sein soll.

Und wenn Kautsky vor zwei Jahren gesagt hat, daß Jaurès durch seine

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[1] Der französische General Georges-Ernest Boulanger, ein Feind der Republik, hatte 1889 versucht, eine reaktionäre Militärdiktatur zu errichten. Er floh nach Belgien, nachdem seine Staatsstreichpläne gescheitert waren.