Erst wenn man die letzten Konsequenzen der Jaurèsschen Taktik ins Auge faßt, begreift man den tiefen inneren Gegensatz, der die beiden Richtungen des französischen Sozialismus trennt.
Es ist in der letzten Zeit, namentlich seit der Dreyfus-Affäre, auch in unsere Presse die Vorstellung eingedrungen, als läge der Grund des französischen Bruderzwistes darin, daß die Vertreter der revolutionären Richtung, die alten Parteien von Guesde und Vaillant, Anhänger eines rein sektiererischen Dogmenfanatismus, einer sterilen Abstentionspolitik seien, die sich den praktischen Anforderungen der alltäglichen Wirklichkeit verschließen, während die Fraktion Jaurès’ die lebendige Entwicklung der sozialistischen Taktik, die Anpassung an die ganze Mannigfaltigkeit des politischen und sozialen Lebens und die Wahrnehmung der unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse vertritt.
Diese Vorstellung beruht auf einer völligen Außerachtlassung der tatsächlichen Verhältnisse des französischen Sozialismus. Es waren gerade die alten Organisationen, die Arbeiterpartei (sog. Guesdisten) und die Sozialistisch-revolutionäre Partei (sog. Blanquisten), die alle die Bahnen des praktischen Kampfes eröffnet haben, in denen sich der Sozialismus in Frankreich bewegt, und eine Taktik geschaffen, die sich in den wesentlichsten Zügen mit der Taktik der deutschen Sozialdemokratie deckt, trotzdem die Ansichten in Frankreich und in Deutschland in einer wichtigen Frage, in der des Agrarprogramms, bekanntlich weit auseinandergehen.
Es war die Arbeiterpartei, die zuerst in Frankreich die parlamentarische Aktion nach dem Ausdruck des von Marx redigierten Programms dieser Partei „aus einem Werkzeug der bürgerlichen Prellerei in ein Werkzeug der proletarischen Emanzipation“ verwandelt hatte. Und zwar nicht nur zum Zwecke der agitatorischen Aufklärungsarbeit, sondern auch im Sinne des Kampfes um naheliegende praktische Reformen.
Wir greifen absichtlich die Parlamentssession 1889 bis 1893 heraus, also eine Zeitperiode, wo die besten Kräfte des Jaurèsschen Flügels sich noch nicht an der sozialistischen Bewegung beteiligten. Die Vertreter der Französischen Arbeiterpartei haben in der erwähnten Session beantragt und in der Kammer verfochten: 1. das volle Programm des Arbeiterschutzes, wie es auf dem Internationalen Sozialistenkongreß 1889[1] ausgearbeitet wurde; 2. das Verbot von Geldstrafen in den Fabriken und die Revision der Fabrikreglements durch paritätische Lokalkommissionen; 3. die Unterstellung aller Hilfskassen der Arbeiter unter die ausschließliche Verwaltung
[1] Der Internationale Arbeiterkongreß, der Gründungskongreß der IL Internationale, fand vom 14. bis 20. Juli 1889 in Paris statt.