Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 65

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Welches ist aber das Verhalten des Jaurèsschen Flügels bei der Allianz mit dem französischen Radikalismus? Wir haben gesehen, wie das Festhalten an der Ministerschaft Millerands die Sozialisten gezwungen hat, die Allianz mit dem Radikalismus zur festen Basis ihrer ganzen Taktik zu machen und deshalb den revolutionären Klassenkampf immer mehr einzuengen und zu verleugnen.

Erst fielen die sozialistische Kritik an der Regierung und die politische Aufklärungsarbeit im Lande fort, und der politische Kampf wurde auf das Parlament konzentriert. Dann wurde im Parlament selbst die Opposition preisgegeben. Die Abstimmung über das Amnestiegesetz zeigte uns die rechtsstehende sozialistische Fraktion in ihrem Verzicht auf selbständigen Kampf gegen die Regierung.

Aber der Abrutsch dauert fort. Und in den Verhandlungen über das Assoziationsgesetz haben die Freunde Jaurèsʼ noch einen weiteren Schritt getan. Zehn sozialistische Abgeordnete haben es in der Sitzung am 4. Februar fertiggebracht, weil die Regierung einen auf Sicherstellung des Koalitionsrechtes der Arbeiter hinzielenden, von der gesamten sozialistischen Fraktion gezeichneten Antrag abgelehnt hatte, gegen den eigenen Antrag zu stimmen! Hier sehen wir die Sozialisten aus einer zum grundsätzlichen Klassenkampf, zur Führung der gesamten Opposition im Lande berufenen Partei in eine haltlose Fraktion der parlamentarischen Augenblickskombinationen verwandelt, in einen Hampelmann, dessen Bewegungen durch die bürgerlichen Parteien bestimmt werden, in einen Haufen von „Mameluken“, wie sie der Radikale von gestern, Urbain Gohier, in der „Aurore“ mit niederschmetternder Verachtung genannt hat.

Die Berufung Jaurèsʼ auf das Kommunistische Manifest von Marx und Engels ist somit ebenso unbegründet wie seine Berufung auf die Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie. Nirgends in der Geschichte und der heutigen Praxis unserer Partei findet sich irgendeine Analogie oder ein Stützpunkt für die Theorie der sozialistischen Ministerschaft.

Freilich hat sich die deutsche wie jede sozialistische Partei entwickelt und dementsprechend ihre Taktik geändert. Allein die dominierende Tendenz in ihrem historischen Werdegang war und bleibt die stetige Erweiterung und Potenzierung, niemals aber die Preisgabe des Klassenkampfes. Die von Jaurès befürwortete Taktik ist deshalb, weit entfernt, eine Konsequenz der Methoden der deutschen Sozialdemokratie zu sein, für die deutsche ganz wie für die französische Arbeiterbewegung eine völlig „neue Methode“.

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