Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 62

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nicht bloß Knecht der bürgerlichen Entwicklung, sondern auch Knecht der bürgerlichen Reaktion ist.

Jaurès hat, wie erwähnt, die Verantwortlichkeit Millerands für die allgemeine Politik des Kabinetts als leere Formalität mit dem Liebknechtschen Eid auf die sächsische Verfassung auf gleiche Linie gestellt. Wir haben gezeigt, daß diese Annahme auf einer ganz mechanischen Auffassung vom Wesen des bürgerlichen Staates beruht. Aber wir beschränken uns gern auf die Verantwortlichkeit Millerands für sein eigenes Ressort. Nur bleibt es Jaurès übrig, zu beweisen, daß der Eid, den Liebknecht dem sächsischen König schwor, dieselben Folgen für die Arbeiterklasse Sachsens hatte wie die Handelspolitik Millerands für das französische Volk. Dann wird er auch auf seine in Lille gestellte Frage, ob wir denn auch schwanken würden, wenn es für unsere Sache nötig wäre, einige von den Unsrigen in die Festung der bürgerlichen Regierung zu werfen[1], eine direkte Antwort bekommen. Dieser Plan läuft nur darauf hinaus, daß „die Unsrigen“ aus der bürgerlichen Festung zusammen mit der Bourgeoisie auf unsere eigenen Reihen schießen.

Ganz anders liegt die Frage der Beteiligung an dem Gemeinderat. Es ist wahr, auch der Gemeinderat wie der Bürgermeister haben unter anderem übertragene administrative Funktionen und die Ausführung bürgerlicher Gesetze zur Aufgabe, allein historisch stellen beide ganz entgegengesetzte Elemente dar.

Während die Regierung die zentralisierte Staatsgewalt verkörpert, wächst die Munizipalität aus der lokalen Selbstverwaltung auf Kosten der Zentralgewalt, als Befreiung von der Zentralgewalt, heraus. Während für die Regierung die spezifischen Mittel der bürgerlichen Klassenherrschaft: der Militarismus, der Kultus, die Handelspolitik, die auswärtige Politik, das eigentliche Wesen ausmachen, ist die Munizipalität speziell zu kulturellen und wirtschaftlichen Aufgaben berufen, also zu denselben, die dem administrativen Mechanismus der sozialistischen, keine Klassenspaltungen kennenden Gesellschaft entsprechen. Zentralregierung und Gemeinde sind deshalb historisch zwei entgegengesetzte Pole in der heutigen Gesellschaft. Der ständige Kampf zwischen der Munizipalität und der Regierung, zwischen dem Bürgermeister und dem Präfekten in Frankreich sind der konkrete Ausdruck dieses geschichtlichen Gegensatzes.

Für die sozialistische Taktik ergibt sich daraus ein grundverschiedenes Verhalten: Die Zentralregierung des heutigen Staates ist die Verkörperung der bürgerlichen Klassenherrschaft, deren Beseitigung eine unumgängliche

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[1] Les deux Méthodes, S. 8. [Fußnote im Original]